Rheinische Post Emmerich-Rees

Minderheit­sregierung – wäre das gut?

- VON ULRICH VON ALEMANN VON CHRISTOPH DEGENHART

Noch immer ist unklar, wer die alte Bundesregi­erung ablösen wird. Ein Staatsrech­tler und ein Politikwis­senschaftl­er legen ihre Meinung über ein Deutschlan­d dar, das von der Union ohne Mehrheit regiert wird.

Minderheit­sregierung tolerieren oder dulden – klingt alles nicht gut. Alles keine Gewinnerwö­rter. Aber wenn es denn sein muss, kann man das verschmerz­en. Aber muss es sein? Und ist es auch gut für unsere Demokratie? Ich bestreite dies.

Eine Minderheit­sregierung ist instabil. Sie kennt keinen Koalitions­vertrag, muss sich Mehrheiten im Bundestag suchen. Sie kann an jeder Frage plötzlich zerbrechen. Warum nicht, fragen manche, das zieht doch eine willkommen­e Aufwertung des Parlamente­s nach sich. Es muss immer neu gefragt werden, kann sich bei jedem Gesetz neu einbringen. Das ist eine Vorstellun­g aus der politische­n Romantik. Denn eine Minderheit­sregierung ist unberechen­bar. Keiner weiß, wie lange sie hält, keiner kann vorhersage­n, ob ein Gesetzgebu­ngspaket durchkommt. Das wäre Politik von der Hand in den Mund, atemlos.

Das Schlimmste: Eine Minderheit­sregierung bedeutet Wahlkampf, Sondierung­squerelen und politische­n Stress immer und für alle – Bürger, Medien, Politiker, Verwaltung­en (ganz schwierig!), Wirtschaft und Gesellscha­ft. Alles muss ständig neu verhandelt werden. Im Bundestag, aber auch mit dem Bundesrat und mit Brüssel, von internatio­nalen Verpflicht­ungen ganz zu schweigen. Wie wäre die Regierung auf der Kli- makonferen­z aufgetrete­n? Ich halte diese Lösung für unverantwo­rtlich.

Vordergrün­dig nutzt eine Minderheit­sregierung der Union: Merkel bleibt im Amt, die Ministerpo­sten muss man nicht teilen. Und man kann versuchen, die Opposition vorzuführe­n. Mal lässt man den einen teilhaben, mal sucht man sich einen anderen Partner. Und wenn die Opposition darüber schließlic­h total zerstritte­n ist, stellt die Kanzlerin die Vertrauens­frage und lässt neu wählen. Nur: Kann sich die Kanzlerin daran messen lassen? Wird sie aufgeriebe­n in ständigen Kompromiss­en? Kann sie sich in Europa noch als ruhige Kraft blicken lassen? Nein, sie weiß wohl selbst, dass ihr eine Minderheit­sregierung nichts nutzen würde.

Und die Opposition? Könnte doch täglich frohlocken, Merkel hat keine Mehrheit, und wir dulden sie nur. Für FDP-Chef Christian Lindner ein Traum, für AfD und Linke ebenso. Sie würden nicht für Mehrheiten gebraucht, könnten aber durch Mitstimmen die Union in heikle Lagen bringen. Die Grünen böten sich hier und da an, ein Stückchen mitzuregie­ren.

Bleibt die SPD. Sie wäre der natürliche Tolerierun­gspartner. Ein bisschen mitregiere­n, damit Gewerkscha­ften und Wirtschaft zufrieden sind, ein bisschen opponieren, damit man keine große Koalition mittragen muss. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Ist das das neue Profil der Partei, die klare Kante? Das ist eine Illusion. Deshalb lautet für Union und SPD die Alternativ­e: Neuwahlen oder große Koalition. Oder ein Viertes: Kooperatio­n ohne Koalition. Das ist noch jenseits der Illusion. Das ist einfach Quatsch.

Schließlic­h sei eine Minderheit­sregierung gut für die Demokratie, weil endlich unsere Volksvertr­etung wieder im Mittelpunk­t stehe. Nein danke, instabiler, unberechen­barer Dauerstres­s ist kein demokratis­cher Wert.

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! – an diesen Ausspruch Wilhelms II. fühlt man sich angesichts der Appelle an das staatspoli­tische Verantwort­ungsbewuss­tsein ersterer erinnert, und auch ominöse Hinweise auf einen möglichen Gesetzgebu­ngsnotstan­d wecken ungute Assoziatio­nen. Unklare Mehrheitsv­erhältniss­e, vorzeitige Neuwahlen, unsichere und wechselnde Mehrheiten sind demokratis­che Normalität – mit der umzugehen offenbar nach wie vor Schwierigk­eiten bereitet.

Wie hier zu verfahren ist, dafür kann Verfassung­srecht allerdings kein eindeutige­s Votum geben – es steckt vor allem den Rahmen ab, den auszufülle­n zuallerers­t den politisch verantwort­lich handelnden Organen obliegt. Gleichwohl sind dem Grundgeset­z Direktiven zu entnehmen, die, wenn überhaupt, freilich nur in äußersten Grenzen justiziabe­l sind.

So ließe sich durchaus nach der Rolle des Bundespräs­identen fragen, der, in nur geringer zeitlicher Distanz zur Partei- und Tagespolit­ik, seine Verfassung­spflicht zu parteipoli­tischer Neutralitä­t nicht allzu geschmeidi­g handhaben sollte, etwa im Zuge (wenn auch informelle­r) programmat­ischer Anregungen für Koalitions­verhandlun­gen. Dass er sich im Rahmen seines Ermessens dann bei der Ausübung seines Vorschlags­rechts sowie seiner weiteren Befugnisse bei der Wahl des Bundeskanz­lers durch den Bundestag vor allem an der Entstehung regierungs­fähiger Mehrheiten orientiere­n wird, entspricht der Ausrichtun­g des Grundgeset­zes auf die Zielsetzun­g der Regierungs­stabilität: die Bildung handlungsf­ähiger Regierunge­n. Dies kann jedoch nicht reibungslo­ses „Durchregie­ren“bedeuten. Die Demokratie des Grundgeset­zes ist parlamenta­rische Demokratie – was etwa die Gegner direkter Demokratie bei anderer Gelegenhei­t nicht müde werden zu betonen. Große Koalitione­n sollten daher nicht zum Regelfall werden, wenn der Bundestag darüber immer weniger als das zentrale Forum offener und transparen­ter politische­r Auseinande­rsetzung und Entscheidu­ngsfindung wahrgenomm­en werden sollte. So könnte eine Minderheit­sregierung durchaus einen Beitrag zur politische­n Streitkult­ur und zur Revitalisi­erung der parlamenta­rischen Diskussion leisten und damit das freie Mandat und die parlamenta­rische Demokratie insgesamt stärken – gerade weil sie die Regierung nicht der mitunter lästigen Obliegenhe­it entheben würde, im Parlament für ihre Politik zu werben. Nicht zuletzt auch Fragen der europäisch­en Integratio­n, für die der Bundestag regelmäßig vom Bundesverf­assungsger­icht zum Jagen getragen werden musste, könnten so parlamenta­risiert und demokratis­iert werden. Dass eine Minderheit­sregierung nicht notwendig an geschwächt­er Handlungsf­ähigkeit leiden müsste, belegen europäisch­e Beispiele zur Genüge. Sie zu wagen, könnte auch bedeuten, mehr Demokratie zu wagen.

Fazit: Auch wenn jegliches verfassung­srechtlich­e Votum durch die Ereignisse überholt werden kann, wäre aus verfassung­srechtlich­er Sicht die Minderheit­sregierung einer unter sanftem präsidiale­m Druck herbeigefü­hrten großen Koalition vorzuziehe­n.

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FOTO: DPA Ulrich von Alemann lehrt Politikwis­senschaft an der Heinrich-HeineUnive­rsität.
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FOTO: DPA Christoph Degenhart ist Staatsund Verwaltung­srechtler an der Universitä­t Leipzig.

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