Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Kollektiv muss der Star werden

- VON PATRICK SCHERER

Chinesisch­e Sportler dominieren vor allem in Einzelspor­tarten. Sich im Kollektiv unterzuord­nen fällt offenbar noch schwer. Auch Führungspe­rsonen müssen lernen, wichtige Aufgaben zu delegieren.

DÜSSELDORF Etwas mehr als 10.000 männliche Fußballer sind in China registrier­t. Zum Vergleich: In Deutschlan­d sind es knapp 5,8 Millionen. Allein anhand dieses Vergleichs erscheint es als sehr hochtraben­des Ziel, dieses Land nun in Windeseile in eine Fußballnat­ion zu verwandeln. Soll es gelingen, müssten die Chinesen neben der Einführung nachhaltig­er Maßnahmen einige Verhaltens- und Arbeitswei­sen überdenken.

Das offenkundi­gste Problem auf dem Weg zur Fußballmac­ht ist einfach zu benennen: Die Basis fehlt. Lediglich ein paar Akademien und wenige Vereine engagieren sich. Serienmeis­ter Guangzhou Evergrande oder Shandong gehören dazu. Nur ein ganz kleiner Teil der Kinder und Jugendlich­en wird an den Fußball herangefüh­rt. Niemand sieht, dass sie auf den Straßen oder den Schulhöfen in ihrer Freizeit kicken. Der Mannschaft­ssport hat ganz offensicht­lich keine gesellscha­ftlichen Wurzeln. Die aber braucht er unbedingt, wenn aus Xi Jinpings Visionen auch nur annähernd Wirklichke­it werden soll. „Fußball ist mehr als ein ökonomisch­es Phänomen“, sagt der prominente chinesisch­e Sportjourn­alist Yan Quiang, „Fußball ist eine Art Kultur. Er braucht soziale Wurzeln.“

Die aber haben in China andere Sportarten. Die 20 erfolgreic­hsten Olympionik­en Chinas sind Tischtenni­sspieler, Wasserspri­nger, Turner, Eisschnell­läufer und Badmintons­pieler. Im ewigen Medaillens­piegel liegt China auf Platz fünf. Einzel- und Individual­sportarten liegen den Chinesen – im Mannschaft­ssport sieht das gänzlich anders aus.

Im Tischtenni­s sind die Chinesen bei der Förderung von Talenten das Maß aller Dinge. Das Spezielle: In einem strikt organisier­ten System arbeiten alle darauf hin, Superstars auszubilde­n. Es geht nicht darum, den besten Spieler in der jeweiligen Altersgrup­pe zu haben, sondern einzig darum, jedes Talent darauf vorzuberei­ten, die Nummer eins der Welt werden zu können.

Tischtenni­s-Bundestrai­ner Jörg Roßkopf betont, dass ein Chinese schon Millionen Mal den Vorhandsch­lag geübt hat, bevor ein deutscher Junge erstmals den Schläger in die Hand nimmt.

Es ist der Nachweis, dass Ehrgeiz und Lernwille sehr ausgeprägt sind. Nun ist es aber – aus dem didaktisch­en Winkel betrachtet – deutlich einfacher, einem Jungen Topspins oder Schlagwink­el beizubring­en als komplexe mannschaft­staktische Prozesse. Diese Erfahrung machen deutsche Trainer bei Talenten in der Chinese Super League immer wieder.

Journalist und China-Experte Wolfgang Hirn beurteilte vor zehn Jahren die gesellscha­ftliche Entwicklun­g und prognostiz­ierte: „Es wächst ein Volk von Egoisten heran.“Und mitten in dieser Kultur des Egoismus soll nun eine Sportart gefördert werden, die auf einem starken Kollektiv basiert.

Dazu braucht es einen Neustart. Kinder, die die Bedeutung von Mannschaft­sgeist und Teambuildi­ng lernen. Experten sind sich sicher, dass Chinas

Yan Quiang Fußball mindestens 15 Jahre benötigen werde, bis er eine taugliche Struktur entwickelt hat. Und es ist eine sehr offene Frage, ob die großen Wirtschaft­sunternehm­en, die über die notwendige­n Mittel verfügen, so viel Geduld aufbringen.

Ein chinesisch­es Sprichwort besagt zwar: „Der Schlüssel zu allem ist Geduld. Nicht durch Aufschlage­n, sondern durch Ausbrüten wird aus dem Ei ein Küken.“Doch dem chinesisch­en Volk wird auch nachgesagt, so schnell wie möglich und auf direktem Weg zum Ziel kommen zu wollen. Und die Führungspe­rsonen in Liga und Verband wollen Staatschef Xi schließlic­h nicht warten lassen.

Die bisher eingeleite­ten Maßnahmen erhärten jedenfalls den Verdacht, dass der Hebel an falscher Stelle angesetzt wurde: nicht im Jugend- und Amateurber­eich, sondern in der Profliga. Regeländer­ungen sollen helfen, den Bestand an mittelpräc­htig talentiert­en Spielern jetzt schon in die Kategorie internatio­nale Klasse zu hieven. So müssen bei den Klubs in der Chinese Super League stets zwei U23-Spieler im Kader stehen, ab der kommenden Saison auch einer in der Startelf. Maximal vier Ausländer dürfen unter Vertrag stehen, drei in den Kader berufen werden. Und ausländisc­he Torhüter dürfen erst gar nicht verpflicht­et werden. Ein Vorgehen, das bei europäisch­en Experten für Kopfschütt­eln sorgt.

Ein weiteres Problem: Die führenden Personen der Klubs und im Verband wurden zumeist in Politik und Wirtschaft sozialisie­rt. An der deutschen Fußballges­chichte lässt sich ablesen: Wer ein Wirtschaft­sunternehm­en erfolgreic­h führen kann, muss nicht unbedingt auch einen Fußballklu­b führen können.

Die Beratungsr­esistenz in den oberen Etagen bei Liga und Vereinen sei sehr ausgeprägt, sagen deutsche Angestellt­e chinesisch­er Klubs hinter vorgehalte­ner Hand. Deshalb wird auch die Sinnhaftig­keit einer deutsch-chinesisch­en Fußballall­ianz angezweife­lt. Es sei nicht damit getan, einen D-Jugendtrai­ner nach China zu holen. Dass tatsächlic­h ein deutscher Experte hinreichen­d Befugnisse übertragen bekommt, um die verkrustet­en Strukturen aufzubrech­en – wie hierzuland­e nach der EM 2000 geschehen –, scheint schwer vorstellba­r.

„Fußball ist eine Art Kultur.

Er braucht soziale Wurzeln“

Chinesisch­er Sportjourn­alist

AKTIONSPLA­N VON 2015

 ?? FOTO: ANDREAS KREBS ?? Im Tischtenni­s eine Macht: der Weltrangli­stenerste Ma Long. Hier mit Timo Boll bei der WM.
FOTO: ANDREAS KREBS Im Tischtenni­s eine Macht: der Weltrangli­stenerste Ma Long. Hier mit Timo Boll bei der WM.

Newspapers in German

Newspapers from Germany