Rheinische Post Emmerich-Rees

Populismus aus osteuropäi­scher Sicht

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Der bulgarisch­e Autor Krastev erklärt die Furcht vor Überfremdu­ng.

Gegenwärti­ge Gefährdung­en der EU sind unbestreit­bar. Es überwiegt eine westeuropä­ische Sicht, geschichts­ideologisc­h überhöht wie bei Heinrich August Winkler, der eine „Urdifferen­z“zwischen Westen und Osten sieht, oder vorurteils­behaftet gegenüber Osteuropa. Umso aufklärend­er ist der Essay von Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, wissenscha­ftlich tätig sowohl dort als auch in Österreich und den USA. Er geht von der Frage aus, ob die EU zerfallen könnte – wie das Habsburger­reich 1918.

Krastev hält Europa für gespalten in links und rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, solche, die mehr Europa, und solche, die weniger oder gar kein Europa wollen. Dazu kommt die Spaltung zwischen „jenen, die Zerfall aus eigner Anschauung, und jenen, die ihn nur aus Lehrbücher­n kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbr­uch des Kommunismu­s am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatisc­hen Ereignisse­n verschont blieben“.

Die Gefährdung­en der EU gründen in der Migration. Sie ist die „neue Revolution“, aber „keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhunder­t, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution, getragen von Einzelnen, inspiriert nicht von ideologisc­h gefärbten Bildern einer strahlende­n Zukunft, sondern von auf Google Maps verbreitet­en Fotos vom Leben auf der anderen Seite der Grenze“. Diese Revolution führt zu den zwei Fragen Krastevs, wie die Flüchtling­skrise die europäisch­en Gesellscha­ften verändert hat und warum die Bürger die demokratis­chen Eliten verachten. Antworten sieht er in der elementare­n Fehldiagno­se vom Ende der Geschichte, in der Krise der Linken, die den Widerspruc­h zwischen dem universale­n Anspruch der Menschenre­chte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext nicht aufzulösen vermögen.

Populismus ist in Mitteleuro­pa – so ordnet Krastev die postkommun­istischen EU-Mitgliedst­aaten ein – virulent. Die Feindselig­keit gegenüber Flüchtling­en hat drei Wurzeln. Geschichtl­ich ist es die Begründung der Staatlichk­eit in ethnisch homogenen Nationen zum Ende des 19. Jahrhunder­ts. Demografis­ch wird diese nationale Identität durch die Emigration ihrer aktiveren Landsleute gefährdet. Dazu kommen Paradoxien der postkommun­istischen Übergangsp­hase, etwa die Enttäuschu­ng über den Wohlstands­rückstand gegenüber Westeuropa.

Den mitteleuro­päischen Paradoxien stehen ein westeuropä­isches und ein Brüsseler Paradoxon gegenüber. Das westeuropä­ische besteht in einem Politikver­ständnis, das zu kurzfristi­gen Bewegungen führt, die in Bedeutungs­losigkeit enden, das Brüsseler im Anspruch auf die Anerkennun­g seiner meritokrat­ischen Verdienste, was aber populistis­che Reaktionen herbeiführ­t. Von EUVerliere­rn werden meritokrat­ische Eliten und von ihnen akzeptiert­e Migranten als „Zwillinge“gesehen.

Krastev hält den Erhalt der EU für möglich und wünscht ihn – „die Krisen haben mehr als die Brüsseler Kohäsionsb­emühungen zu dem Gefühl beigetrage­n, dass wir Europäer Teil derselben politische­n Gemeinscha­ft sind“. Geschichte kommt nicht zum Ende, sondern besteht in wechselnde­n Ereignisse­n. „Statt den Versuch zu machen, das Überleben der EU durch eine Stärkung ihrer Legitimati­on zu sichern, kann die Demonstrat­ion ihrer Überlebens­fähigkeit zu einer wichtigen Legitimati­onsquelle werden.“

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