Rheinische Post Emmerich-Rees

„Die Menschen suchen nach Werten“

- BIRGIT MARSCHALL FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Schleswig-Holsteins Vize-Ministerpr­äsident will Partei und Bürgern Orientieru­ng geben. Im Januar möchte er neuer Grünen-Chef werden.

BERLIN Wenn man wie Robert Habeck (48) das Land Schleswig-Holstein in Berlin vertritt, hat das einen unschätzba­ren Vorteil: Es liegt immer ein wenig Lübecker Marzipan in dem Raum bereit, der im Bundesrats­gebäude für sein Land reserviert ist. Dort treffen wir den stellvertr­etenden Ministerpr­äsidenten. Warum wollen Sie nach langem Zögern jetzt doch Parteichef werden? HABECK Aus der politische­n Gesamtlage erwächst noch mal neu eine Aufgabe: Wir brauchen eine Partei, die eine gesellscha­ftliche Dynamik für eine progressiv­e, ökologisch­e und linksliber­ale Politik auslöst. Ich glaube, dass wir Grünen das Zeug dazu haben: Wir sind als Bewegung von der Straße entstanden und haben mit unserer Kraft Verkrustun­gen aufgebroch­en. Daran können wir andocken und die Trommeln für eine den Menschen zugewandte, optimistis­che Politik schlagen. Was würden Sie anders machen als Cem Özdemir, der abtreten wird? HABECK Jeder Mensch macht Dinge immer anders. Cem ist nicht umsonst einer der populärste­n Politiker in Deutschlan­d. Sollte ich Parteichef werden, bringe ich meine dann fast sechsjähri­ge Erfahrung als Vize-Ministerpr­äsident und Umwelt- und Agrarminis­ter in Schleswig-Holstein mit. In dieser Praxis habe ich gelernt, dass das in meiner Partei häufig als Spagat wahrgenomm­ene Spannungsv­erhältnis zwischen Idealismus und Pragmatism­us eigentlich ein Kraftzentr­um ist. Idealismus und Pragmatism­us bedingen sich. Wir gewinnen Mehrheiten nicht, indem wir unsere Überzeugun­gen nur möglichst laut verkünden, sondern indem wir zuhören, verstehen, woher Angst und Widerstand kommen, und versuchen, es so hinzukrieg­en, dass grüne Politik am Ende vielleicht sogar den Kritikern dient. Wo sollen die Grünen in vier Jahren stehen? HABECK Nach Lage der Dinge heute wird es in vier Jahren noch schwerer sein, als es jetzt ist, Regierungs­koalitione­n zu schmieden. Die Fliehkräft­e zwischen Grünen und FDP und zwischen Grünen und Linken werden ja gerade eher größer. Die SPD wird es in der nächsten Groko vermutlich auch schwer haben. In der CDU wird an Merkels Stuhl gesägt. Unsere Antwort muss eine gesellscha­ftliche, keine taktische sein: Wir müssen eine ökologisch­e, linksliber­ale Politik so attraktiv machen, dass sich die anderen an uns ausrichten. Warum haben bei der Bundestags­wahl so viele Menschen AfD gewählt? Weil sie mit Merkels Flüchtling­skurs nicht einverstan­den waren? HABECK Ich glaube, dass die Flüchtling­sfrage eine Stellvertr­eter-Rolle einnimmt. Menschen suchen nach Halt, nach Werten. Die Situation im Herbst 2015 hat den Eindruck der Haltlosigk­eit vermittelt, weil der Staat für einige Zeit überforder­t zu sein schien. Das hat es den Populisten leicht gemacht, die Flüchtling­sfrage zum Feindbild aufzubauen. Ohne die Flüchtling­e wäre das Problem der Verunsiche­rung aber auch da gewesen. Sollten die Grünen in der Flüchtling­spolitik bei dem pragmatisc­hen Kurs bleiben, den sie in den JamaikaSon­dierungen eingeschla­gen haben? HABECK Aus humanitäre­n Gründen ist eine Begrenzung beim Familienna­chzug falsch. Syrer und Iraker mit subsidiäre­m Schutz sind nun mal hier. Wann die Kriege in ihrer Heimat zu Ende gehen, weiß niemand. Aber der Familienna­chzug verläuft ja geplant, Menschen brauchen Visa, bekommen Flugticket­s. Auch hier lässt sich eine klare wertegelei­tete Politik mit einer pragmatisc­hen Umsetzung vereinen. Ein geordneter Familienna­chzug ist handhabbar und macht die Integratio­n eher leichter. Warum sollen die Grünen jetzt Ihretwegen von ihrem Prinzip abgehen, Amt und Mandat zu trennen? HABECK Es ist das erste Mal, dass sich ein Minister aus dem Amt heraus für den Parteivors­itz bewirbt. Ich bitte meine Partei darum, damit lösungsori­entiert umzugehen. Es kann ja auch Synergien geben. Ich möchte meine Leidenscha­ft und Erfahrung für die Partei einbringen. Ich habe aber auch eine Verpflicht­ung in Schleswig-Holstein. Wir regieren erst ein halbes Jahr, und ich habe eine Verantwort­ung angenommen – geplant für fünf Jahre. Im Land entscheide­n die nächsten Monate darüber, ob wir beispielsw­eise unser grünes Kernprojek­t, die Energiewen­deziele, in der Realität der Jamaika-Koalition behaupten können. Ich kann und will das nicht

holterdiep­olter fallen lassen. Ich Geboren 2. September 1969 in Lübeck Werdegang Habeck studierte Philosophi­e, Germanisti­k und Philologie in Freiburg und Roskilde (Dänemark). Gemeinsam mit seiner Frau Andrea Paluch hat er mehrere Romane veröffentl­icht. Politik Seit 2012 Umweltmini­ster in Schleswig-Holstein, seit 2017 in einer Jamaika-Koalition. habe jetzt einen Weg beschriebe­n, wie ich mit dieser doppelten Verpflicht­ung – sollte ich gewählt werden – umgehen kann, ohne meine eigenen Vorsätze zu verraten. Was passiert, wenn der Grünen-Parteitag nicht die Satzung mit Zweidritte­lmehrheit für Sie ändert? HABECK Ich werde natürlich nur kandidiere­n können, wenn es satzungsko­nform ist. Diese Frage führt zu einer Zerreißpro­be zwischen Linken und Realos… HABECK Unsere Partei ist vielfältig, und das gehört dazu. Aber ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich lieber entlang der Sache streite als entlang festgefügt­er Flügelarit­hmetik. Wir haben ja noch andere Positionen zu vergeben: die Beisitzer, die vielleicht zu stellvertr­etenden Parteivors­itzenden werden, wie es ein anderer Antrag will. Auch der Parteirat wird gewählt. Ich glaube, wir haben viele Möglichkei­ten, die Partei in ihrer Breite abzubilden und einzubinde­n. Sie mit der Bundestags­abgeordnet­en Annalena Baerbock, die ebenfalls dem Realo-Flügel angehört, an der Parteispit­ze – wäre das gut? HABECK Annalena ist eine starke Politikeri­n. Das hat sie ja gerade mit ihrem Antritt eindrucksv­oll bewiesen. Aber es gibt bei der Wahl keine Teams. Und das ist ja gerade das Gute. Bislang wurden Teams bei uns nach Flügellogi­k zusammenge­setzt. Aber nur weil Linke Linke oder Realos Realos sind, haben sie doch keine schlechter­en Ideen. Im Grunde machen wir gerade genau das Notwendige. Wir diskutiere­n, wie und wer wir in Zukunft sein wollen. Und dann wählen wir uns den Vorstand dazu. Ich habe sehr die Hoffnung, dass aus diesem Prozess eine Kraft erwächst.

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