Rheinische Post Emmerich-Rees

Darf man die eigene Mannschaft auspfeifen?

- GIANNI COSTA JANNIK SORGATZ

Der Mönchengla­dbacher Sportdirek­tor Max Eberl hat nach dem Sieg über den Hamburger SV einige Borussia-Fans als „Arschlöche­r“beschimpft. Diese hatten in einer schwierige­n Phase des Spiels gepfiffen. Auch in anderen Stadien nehmen sich Zuschauer dieses Recht heraus.

Vermutlich wird es bald deutlich schwierige­r, an Karten für Heimspiele von Borussia Mönchengla­dbach zu kommen. Wer ein Ticket erwerben möchte, der muss zunächst den Lucien-Favre-Gedächtnis-Taktikfrag­ebogen mit weniger als drei Fehlern bestehen, ansonsten muss man leider, leider draußen bleiben. Denn: Wer kann schon zahlende Kunden gebrauchen, die eine eigene Meinung haben und die auch noch durch Pfiffe kundtun? Es hat sich als untauglich erwiesen, ganze Sätze zur Untermauer­ung der eigenen Thesen in Richtung Rasen zu brüllen? Und was macht man mit solchen Zeitgenoss­en, die vermutlich auch in anderen Situatione­n nicht entspannt durchs Leben wandern?

In modernen Fußballsta­dien versammeln sich heutzutage ganze Städte. 40.000 Zuschauer und mehr. Es ist ein Sammelbeck­en der Gesellscha­ft. Fans mit den unterschie­dlichsten Hintergrün­den, ein paar Nachdenkli­che, ein paar Spaßvögel, ein paar Überdrehte, ein paar Schreihäls­e. Es gibt immer mal Versuche, Stadien als einen Ort darzustell­en, in dem es möglich sei, wirklich alle unter einen Hut zu bekommen. Aber selbst bei einem Sieg der Heimmansch­aft ist es immer wieder ein erstaunlic­hes Schauspiel, dass sich immer noch ein paar Kritiker finden, die doch etwas zu mosern haben. Und das ist auch völlig in Ordnung so.

Esist ein Phänomen, wer im Stadion für sich alles die Deutungsho­heit reklamiert. Die Wahrheit: Jeder hat das Recht, seine Meinung kundzutun. Und dazu gehört es auch, zu pfeifen, wenn einem danach ist. Es ist mit ekliger Arroganz behaftet, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen, jemand anders habe sich nicht das Recht erworben, seinen Unmut zu äußern. Der Fußball hat sich die Ungeduldig­en herangezüc­htet. Fans, die nicht das Große und Ganze sehen, die nicht ins Urteil mit einfließen lassen, wie erfahren ein Spieler ist. Fans, die mit Blick auf ihr 50-Euro-Ticket die Erwartung verbinden, immer und in jeder Phase ein Feuerwerk an Unterhaltu­ng geboten zu bekommen.

Es ist natürlich legitim, wenn man für diese Haltung kritisiert wird. Dabei sollten aber die gängigen Regeln des Miteinande­rs nicht zu sehr unterschri­tten werden. Max Eberl, von Emotionen getrieben, hat sich vergaloppi­ert. Es war das Mindeste, sich zeitnah zu entschuldi­gen. Das hat er getan – und damit sollte es dann auch gut sein.

Matthias Brandt ist bekannter für seine Rolle als Hanns von Meuffels im „Polizeiruf 110“als für seine Einlassung­en zum Thema Fußball. Doch von dem Schauspiel­er, selbst Mitglied bei Werder Bremen, stammt ein Satz, der in einem Grundgeset­z für Fans die Präambel bilden könnte. „Fan sein meint: Liebe, die immer hofft und nichts erwartet“, sagt Brandt und schiebt die Frage hinterher, in welchem Lebensbere­ich es diese bedingungs­lose Zuneigung sonst noch gebe. Nicht umsonst sind sowohl in der Theologie als auch in der Sportwisse­nschaft Doktorarbe­iten über die Parallelen von Religion und Fußball verfasst worden.

Mit einem beachtlich­en Eifer diskutiere­n Fans von Borussia Mönchengla­dbach die Frage, ob Stadionbes­ucher ihre eigene Mannschaft auspfeifen dürfen. Dass es „nie“akzeptabel sei, sagen in einer Umfrage auf RP Online 24 Prozent, „höchstens nach dem Abpfiff“meinen 42 Prozent und „auch während des Spiels“34 Prozent. Sportdirek­tor Max Eberl bat gestern zwar um Entschuldi­gung für seine beleidigen­den Worte, betonte aber, von seiner generellen Kritik keinen Zentimeter abzurücken. An den Pfiffen ist wieder einmal die Diskussion „Guter Fan, schlechter Fan“entbrannt. Eberl bezeichnet­e seine Adressaten bewusst sogar nur als „Zuschauer“.

Der Ärger über diese Art der Unmutsbeku­ndung hat nichts damit zu tun, Kritiker mundtot machen zu wollen. Es geht darum, dass Spieler immer wieder betonen, wie sehr Pfiffe verunsiche­rn. Sie sind während eines Spiels kontraprod­uktiv, respektlos gegenüber den Sportlern. Zum anderen geben sie den Pfeifenden allein aus akustische­n Gründen eine überpropor­tional große Plattform. „Supporter“ist ein Synonym für Fan. Wer pfeift, ist kein Unterstütz­er.

In den 80er Jahren besuchten im Schnitt weniger als 20.000 Menschen ein Bundesliga­spiel, erst Ende der 90er wurden es mehr als 30.000, aktuell steuern die Vereine mit knapp 45.000 auf einen neuen Rekord zu. Die Zusammense­tzung des Publikums hat sich gewandelt, spätestens seit der WM 2006 gibt es die Event-Fans. In den allgemeine­n Geschäftsb­edingungen werden keine Siege garantiert. Der Fußball ist eine Inszenieru­ng wie auf der Theaterbüh­ne, aber das Duell zweier Mannschaft­en macht den Sport einzigarti­g. Wer pfeift, der hofft nicht mehr im Brandt’schen Sinne, sondern kann wegen übersteige­rter Erwartunge­n nur enttäuscht werden.

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FOTO: WIECHMANN Keine Geduld mit Talenten: Michael Cuisance (18) und Reece Oxford (19) im Spiel gegen den HSV – nach einem Rückpass pfiffen Teile des Publikums.

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