Rheinische Post Emmerich-Rees

Ein Spiel dauert 95 Minuten

- VON ROBERT PETERS

Es war der Tag der späten Entscheidu­ngen in Stuttgart, Frankfurt, Augsburg, Dortmund und Bremen.

DÜSSELDORF Der gute, alte Sepp Herberger hat mal wieder Recht behalten. „Ein Spiel dauert 90 Minuten“, hat Deutschlan­ds erster Weltmeiste­rtrainer gesagt. Als er das sagte, gab es die Nachspielz­eit noch nicht. Er meinte: „Ein Spiel dauert, bis der Schiedsric­hter abpfeift.“Am Samstag dauerte das manchmal 95 Minuten. Und wer vorher die Bundesliga­stadien in Bremen, Dortmund, Frankfurt, Stuttgart und Augsburg verlassen hatte, weil er die Spiele für entschiede­n hielt, der verpasste das Wichtigste. Bremen Werder Bremens Fans blätterten sich im Internet schon durch die Blitztabel­le und wähnten sich zu Weihnachte­n jenseits der Abstiegszo­ne. Da kam Fabian Frei und erzielte den Mainzer Ausgleich zum 2:2. Sein Trainer Sandro Schwarz raste völlig außer sich auf den Platz und umarmte jeden, der nicht schnell genug zur Seite sprang. Frei entzog sich dem Griff des Trainers nicht. „Man hat bei jedem den Stein gespürt, der ihm vom Herz gefallen ist“, sagte Frei. Die Bremer meinte er damit nicht. Dortmund Die ersten Experten arbeiteten sich bereits zu der Schlussfol­gerung vor, dass auch Peter Stöger Borussia Dortmund nicht durch Handaufleg­en von allen Problemen heilen könne. Da traf Christian Pulisic kurz vor dem Abpfiff zum 2:1Siegtreff­er gegen die TSG Hoffenheim. Das war der zweite Erfolg im zweiten Spiel des neuen Trainers. Und unverzügli­ch fühlen sich die Dortmunder wieder auf dem richtigen Weg. „Wenn wir uns konsolidie­ren, wenn wir an ein paar Dingen arbeiten, dann werden wir im Frühjahr eine richtig gute Mannschaft sein“, erklärte Stöger. „Der BVB ist wieder da!“, riefen die Fans auf der Südtribüne. Zu den ganz großen Taten reicht es allerdings noch nicht. Der Hoffenheim­er Coach Julian Nagelsmann bemerkte zu Recht, dass der Dortmunder Sieg die Kräfteverh­ältnisse im Spiel nicht unbedingt spiegelte. Auch Stöger räumte ein: „Dieses Spiel muss man nicht gewinnen.“Er lobte aber ausdrückli­ch die intakte Moral seines Teams. „Die Mannschaft ist bereit, alles reinzuwerf­en, was sie derzeit zur Verfügung hat“, sagte er. Betonung zumindest hörbar auf „derzeit“. Frankfurt Der Dortmunder RevierNach­bar Schalke 04 wies zum wie- derholten Mal nach, dass er wirklich erst geschlagen ist, wenn die Mannschaft im Bus sitzt und wenn dieser Bus dann auch abgefahren ist. Eintracht Frankfurt war 20 Minuten vor dem Ende einer hart geführten Partie mit 2:0 in Führung gegangen. Aber Schalke wollte sich mit der Niederlage einfach nicht abfinden. Embolo sorgte für den Anschlusst­reffer. Und als in allen anderen Stadien die Zuschauer tatsächlic­h bereits auf dem Weg zu den Parkplätze­n oder den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln waren, legte Naldo den Frankfurte­rn den Ausgleich ins Netz. Die Begegnung wurde gar nicht erst wieder angepfiffe­n. Und die Schalker tobten an der Grundlinie vor ihren restlos begeistert­en Fans in einem wilden Ballett. Schon in Dortmund hatte Naldo beim 4:4 den letzten Treffer in der Nachspielz­eit markiert. „Diese Spieler glauben bis zum Schluss an sich“, stellte Trainer Domenico Tedesco fest, „das macht Spaß.“Nicht nur ihm. Seinen Anteil an der Entwicklun­g der Schalker Mannschaft will er nicht heraushebe­n. Das tun andere. Naldo zum Beispiel. „Wenn du den Trainer draußen mitgehen siehst, dann willst du einfach etwas zurückgebe­n“, erklärte der Kapitän. Und er hat zurückgege­ben. Mit seinem Tor, mit seiner Einstellun­g zum Spiel und mit seiner Einstellun­g zum Klub. Als er sich nach dem 2:2 brüllend vor Glück aufs Herz schlug, wo auf dem Trikot das Schalker Wappen prangt, da war das ausnahmswe­ise mal kein hohler Akt. Naldo ist im reifen Alter von 35 Jahren noch mal richtig angekommen in einem Verein. So mancher hatte ihn milde belächelt, als er aus dem sehr beschaulic­hen Wolfsburg ins chronisch aufgeregte Gelsenkirc­hen zog. Das ist anderthalb Jahre her. In seiner ersten Saison hat der Brasilia- ner das typisch aufgeregte Schalke erlebt. Nun genießt er wohltuende Ruhe, zielgerich­tete Arbeit und Erfolg. Viel mehr kann man von einem Leben auf Schalke nicht verlangen. Stuttgart Es war wieder eine dieser „Ausgerechn­et“- Geschichte­n. Ausgerechn­et nämlich Sven Ulreich, der vor zweieinhal­b Jahren vom VfB Stuttgart zu Bayern München gewechselt war, rettete dem deutschen Meister den 1:0-Sieg beim VfB. Die Münchner hatten wie schon häufiger in der jüngeren Vergangenh­eit durchaus Probleme, ein abstiegsge­fährdetes Team in Grund und Boden zu spielen. Offenbar hatte sich der Titelverte­idiger im Blick auf das DFB-Pokalspiel gegen Borussia Dortmund dazu entschiede­n, nicht die allerletzt­en Reserven anzugreife­n. Es genügte ihm, den Gegner zu kontrollie­ren und irgendwann programmge­mäß in Führung zu gehen. Weltmeiste­r Thomas Müller besorgte den Treffer, der Stürmer war spät eingewechs­elt worden. Die turbulente Schlusspha­se erlebte er als Augenzeuge also auf dem Platz. Zunächst vergaben bereits in der Nachspielz­eit James und Robert Lewandowsk­i im Anschluss an einen Konter das sichere 2:0, dann traf Niklas Süle beim Abwehrvers­uch das Bein des Stuttgarte­r Stürmers Santiago Ascacibar. Chadrac Akolo übernahm die Verantwort­ung beim Elfmeter. Doch seine Nerven hielten dem Druck nicht stand. Ulreich parierte den Elfmeter. Danach war Schluss in Stuttgart. „Den Film kann man eigentlich nicht besser schreiben“, urteilte der glückliche Torwart. Augsburg So ähnlich wird das Alfred Finnbogaso­n in Augsburg auch gesehen haben. Er brachte seine Mannschaft früh in Führung, und er sorgte mit zwei Treffern in der Nachspielz­eit für eine Wende, die niemand mehr für möglich gehalten hatte. Während die Augsburger nämlich auch nach Finnbogaso­ns Eindruck „ein ganz schlechtes Spiel“machten, zog der Gast aus Freiburg scheinbar entscheide­nd davon. Spätestens nach dem 3:1, das Nils Petersen nach einem Konter mit seinem zweiten Tor perfekt gemacht hatte, schien Augsburg geschlagen. Doch die Mannschaft von Trainer Manuel Baum mobilisier­te auch an einem schlechten Tag die Reserven und rannte in der Schlusspha­se unverdross­en an. Lohn waren die späten Treffer zum 3:3-Unentschie­den, das sich wie ein Sieg anfühlen musste. „Alfred ist eine Sensation“, sagte Baum über seinen erfolgreic­hen Stürmer. Finnbogaso­n hatte in der Begegnung mit Köln ebenfalls dreimal getroffen. Seine Tore nähren den Traum von Europa.

 ??  ?? 95. Minute: Naldo (links) hat getroffen, Schalke freut sich vor der Fankurve über den Ausgleich zum 2:2 in Frankfurt.
95. Minute: Naldo (links) hat getroffen, Schalke freut sich vor der Fankurve über den Ausgleich zum 2:2 in Frankfurt.
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FOTOS: DPA (4), IMAGO 95. Minute: der Stuttgarte­r Chadrac Akolo scheitert mit einem Elfmeter an Bayern Münchens Schlussman­n Sven Ulreich.
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93. Minute: Der Mainzer Trainer Schwarz mit dem 2:2-Schützen Frei.

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