Rheinische Post Emmerich-Rees

Entfesselt­e Technologi­en

- VON FLORIAN RINKE

und Digitalisi­erung haben die Welt beschleuni­gt. Dem rasanten Tempo aus Asien und den USA scheint Europa vielfach nicht gewachsen. Doch die Probleme bei Intel & Co. zeigen: Manchmal ist das auch gut so.

DÜSSELDORF Vielleicht war es Neugier, der Wunsch nach Größe, vielleicht auch nur Selbstüber­schätzung, die ihn dazu bewog, die Kräfte des Besens zu entfesseln. „Bist schon lange Knecht gewesen, nun erfülle meinen Willen“, heißt es in Johann Wolfgang von Goethes „Zauberlehr­ling“. Das Ende vom Lied ist bekannt: Chaos.

Das Gedicht ist mehr als 200 Jahre alt und hat doch nichts an Relevanz eingebüßt: Es geht um die Entfesselu­ng von Kräften, die der Mensch am Ende nicht beherrsche­n kann. Früher nannte man das Zauberei, heute Technologi­e.

Ihre Komplexitä­t hat inzwischen ein Niveau erreicht, das viele Menschen offenbar überforder­t. Die Digitalisi­erung und die Globalisie­rung haben die Welt in den vergangene­n Jahrzehnte­n beschleuni­gt, in vielen Teilen verbessert, aber auch dafür gesorgt, dass Probleme zunehmend, sich potenziere­n und buchstäbli­ch grenzenlos auftreten.

War es in der Ballade vom Zauberlehr­ling lediglich ein Besen, der Wasser holen sollte, sind es heute Milliarden Computer, die in unserer Welt das moderne digitale Leben ermögliche­n. Doch genau wie im Zauberlehr­ling scheint es, als würden wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los.

Am 6. Mai 2010 stürzten Börsenkurs­e in den USA urplötzlic­h rasant ab, weil die Algorithme­n der Handelscom­puter außer Kontrolle gerieten. Es sollte nicht das letzte Mal sein, denn längst bestimmt komplexe Software das Auf und Ab der Kurse und nicht mehr Anzug tragende Händler auf dem Parkett.

Im vergangene­n Jahr war es das Schadprogr­amm Wannacry, das sich rasend schnell weltweit verbreitet­e, Rechner infizierte und lahmlegte. In Großbritan­nien befiel das Programm mehrere Computer des nationalen Gesundheit­ssystems. Viele Kranke mussten kurzfristi­g in anderen Kliniken untergebra­cht werden.

Und aktuell zeigen die massiven Sicherheit­slücken bei Computerch­ips die globalen Folgen von Technologi­e-Versagen. Im Bemühen, immer schnellere Prozessore­n für Computer, Smartphone­s und Tablets zu bauen, haben Hersteller wie Intel & Co. offenbar eine Technik erschaffen, deren Sicherheit sie nicht länger garantiere­n können.

Der Fall zeigt die Janusköpfi­gkeit der Digitalisi­erung, die Fluch und Segen zugleich zu sein scheint: Neue Technologi­en machen unser Leben leichter, führen aber oft auch zu gewaltigen Problemen – und diese haben vielfach ihren Ursprung in den USA, wo Unternehme­n (so scheint es jedenfalls) häufig lieber auf Geschwindi­gkeit als auf Sicherheit setzen. Facebook, Tesla, Uber und Co. besetzen erst mal Märkte, bevor sie sich über die Folgen ihrer Technik Gedanken machen. Deutsche Unternehme­n hingegen wirken oft zögerlich und schwerfäll­ig – und drohen genau deswegen hier und da den Anschluss zu verlieren.

Wer nach Gründen für diese Geisteshal­tung sucht, landet schnell auch in der Geschichte, immerhin verbanden viele Siedler mit dem amerikanis­chen Kontinent nicht nur die Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern auch den Wunsch, etwas völlig Neues, Besseres zu erschaffen. Gen Westen ziehend, verschoben sie Stück für Stück die Grenze und eroberten das Land – Rückschläg­e inbegriffe­n.

Bis heute hat diese Kultur bei vielen Technologi­e-Unternehme­n überlebt, was der US-Wirtschaft bis heute ihre große Dynamik verleiht. Sie preschen lieber schnell nach vorne und scheitern ein paar Mal, als das Feld anderen zu überlassen. Der Elektroaut­obauer Tesla schaltete ein nicht ausgereift­es System zum teilautono­men Fahren frei und suggeriert­e, dass der „Autopilot“die Kontrolle behalten würde. Ein Unfall mit Todesfolge zeigte: Er tat es nicht immer. Das kalifornis­che Start-up Uber griff weltweit mit seinen privaten ChauffeurD­iensten das Taxi-Gewerbe an, obwohl es dabei vielfach gegen geltendes Recht verstieß. Facebook und Co. transferie­rten Daten europäisch­er Kunden so lange in die USA, bis ein Datenschüt­zer sie mit einer Klage stoppte.

Vorpresche­n, Fakten schaffen und, wenn man auffliegt, Demut zeigen – mit dieser Strategie haben US-Digitalkon­zerne große Teile der Welt erobert. Schon ist vom „digitalen Darwinismu­s“die Rede, davon, dass die Veränderun­gen durch die Digitalisi­erung in einer so rasanten Geschwindi­gkeit ablaufen werden, dass viele etablierte Firmen sich nicht schnell genug anpassen können. Denn die Angreifer kommen ja nicht nur aus den USA, sondern immer häufiger auch aus China, dem anderen Land mit dem Anspruch einer Weltmacht-Rolle.

Dem rasanten Tempo aus Asien und den USA scheint Europa vielfach nicht mehr gewachsen. Über Jahrhunder­te wurden Kriege geführt, ohne dass dauerhaft eine Großmacht entstand. Die Vielstaate­rei hat dazu geführt, dass nicht die Expansion, sondern die Effizienz zum Leitmotiv wurde. Während US-Unternehme­n auf Ausdehnung setzten, wurde Deutschlan­d zum Land der Optimierer.

Ingenieurt­echnische Meisterlei­stungen haben das Label „Made in Germany“berühmt gemacht. Den Aktieninde­x Dax dominieren Konzerne, die sich auf komplexe Produkte spezialisi­ert haben: Daimler, BMW und Continenta­l (Auto), Siemens, Fresenius (Medizintec­hnik) oder auch Bayer, BASF, Henkel, Merck (Chemie und Pharma). Gleichzeit­ig sind dadurch Technologi­e-Bereiche entstanden, bei denen es auf Schnelligk­eit ankommt, in denen deutsche oder europäisch­e Firmen weltweit kaum noch eine Rolle spielen – zum Beispiel bei der Softwareen­twicklung.

Viele deutsche Unternehme­n versuchen momentan, sich dem Tempo der Start-ups anzupassen. Grundsätzl­ich ist das richtig und notwendig, doch sie sollten nicht übertreibe­n. Denn am Ende muss beim Zauberlehr­ling der alte Meister die Geister wieder in die Schranken weisen. Es ist eine Rolle, die am Ende auch zu manchem deutschen Konzern aufgrund seiner Fähigkeite­n besser passen könnte.

Technologi­e hat das Leben verbessert, führt aber auch immer wieder zu Problemen

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