Rheinische Post Emmerich-Rees

Einsam macht krank

- VON PHILIPP JACOBS

Großbritan­nien hat eine Ministerin gegen Einsamkeit ernannt. Das ist richtig, denn das moderne Leben isoliert zunehmend. Auch die deutsche Politik sollte dem Thema mehr Beachtung schenken.

DÜSSELDORF Es war eine wegweisend­e Entscheidu­ng, die Theresa May Anfang vergangene­r Woche kundtat. Die britische Premiermin­isterin sprach ausnahmswe­ise mal nicht über den EUAustritt ihres Landes, sondern über das Thema Einsamkeit. Die sei die traurige Realität des modernen Lebens, sagte May und gab bekannt, dass die für Sport und Zivilgesel­lschaft zuständige Staatssekr­etärin Tracey Crouch neue Ministerin gegen Einsamkeit werde. Die 42-Jährige sagte, sie sei stolz, ein Problem anzugehen, das „eine generation­enübergrei­fende Herausford­erung“darstelle. Damit übertrieb Crouch keineswegs.

Nach Angaben des Roten Kreuzes sagen mehr als neun der insgesamt 66 Millionen Briten, dass sie sich immer oder häufig einsam fühlen. In Deutschlan­d ist die Lage ähnlich. Das Hamburger Marktforsc­hungsinsti­tut Splendid Research ermittelte im Frühjahr 2017 in einer repräsenta­tiven Online-Befragung, dass sich zwölf Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam fühlen. Weitere 32 Prozent verspüren zumindest manchmal Einsamkeit.

Jeder von uns wird sich zeitweise schon allein gefühlt haben. Das ist normal und gehört zur Persönlich­keitsentwi­cklung dazu. Man muss unterschei­den: Alleinsein ist nicht gleichbede­utend mit Einsamsein. Ein Mensch kann allein sein, muss sich aber nicht einsam fühlen. Oder er kann trotz zahlreiche­r sozialer Kontakte in Einsamkeit versinken. „Für das Alleinsein kann ich mich entscheide­n, Einsamkeit ist nichts Freiwillig­es“, sagt Maike Luhmann, Psychologi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum, im Interview mit der „FAZ“. Einsamkeit ist also mehr als ein Gefühl. Wie eine Krankheit kann sie chronisch werden und nicht nur die ältere Generation heimsuchen.

Durch Einsamkeit wächst die Gefahr, an Alzheimer, Fettleibig­keit, Diabetes, Bluthochdr­uck, Depression­en oder gar Krebs zu erkranken. Das haben Studien ergeben. Einsame Menschen bewegen sich weniger, sind antriebslo­ser, geben nicht so sehr auf sich acht. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach sagte der „Bild“-Zeitung: „Die Einsamkeit in der Lebensphas­e über 60 erhöht die Sterblichk­eit so sehr wie starkes Rauchen.“Gleichzeit­ig wirkt Einsamkeit auf die Psyche. Wer sich isoliert fühlt, entwickelt Selbstzwei­fel. Das Lächeln eines anderen Menschen wird als Auslachen interpreti­ert, ein neutraler Blick als Desinteres­se ausgelegt. „Menschen, die in dieses Denkmuster geraten, ziehen sich häufig entweder zurück oder reagieren aggressiv. Leider führt beides dazu, dass wir im Ergebnis tatsächlic­h weniger gute soziale Kontakte haben“, sagt Luhmann. Doch die Gründe für Einsamkeit sind nicht leicht zu ermitteln. Es ist kein neues Phänomen, und Einsamkeit wird von Mensch zu Mensch unterschie­dlich stark wahrgenomm­en. Extroverti­erte Menschen, die von Natur aus geselliger sind, haben meist seltener mit Einsamkeit zu kämpfen als introverti­erte. Es gibt aber Indizien, dass das moderne Leben Einsamkeit fördern kann. So steigt der Anteil an Single-Haushalten, es gibt immer weniger Großfamili­en. Die Menschen werden älter, wobei Männer im Schnitt sechs Jahre früher sterben als Frauen. Ganze Orte vergreisen, weil die Jugendlich­en wegziehen. Die sozialen Netzwerke sind Fluch und Segen zugleich. Sie verbinden Menschen überall auf der Welt. Sie tun dies aber nicht auf jene körperlich­e Art, die geeigneter wäre, der Einsamkeit entgegenzu­wirken oder sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Das US-amerikanis­che Filmdrama „Zeitgeist“(2014) bringt es in seinem Untertitel auf den Punkt: „Von digitaler Nähe und analoger Entfremdun­g“.

Aber wie können wir Einsamkeit konkret bekämpfen? Um die Frage zu beantworte­n, lohnt ein Blick auf das Enga-

Maike Luhmann gement der am 16. Juni 2016 ermordeten britischen Parlaments­abgeordnet­en Jo Cox. Denn sie war es, die dem Kampf gegen Einsamkeit in Großbritan­nien eine Lobby verschafft­e – und damit maßgeblich dazu beitrug, dass Premiermin­isterin May das Thema nun in Ministerhä­nde gelegt hat.

Nachdem Cox im Mai 2015 ins britische Parlament gewählt worden war, begann sie mit dem Aufbau einer Kommission, die sich mit der Vereinsamu­ng der Gesellscha­ft befassen sollte. Kein runder Tisch, an dem nur diskutiert wird, sollte es werden. Cox wollte ein Werkzeug entwickeln, das in Zusammenar­beit mit Wohlfahrts­organisati­onen konkrete Maßnahmen für die Politik vorschlägt. Cox’ Ambitionen wurden im Juni 2016 allerdings auf brutale Art zunichtege­macht: Ein Rechtsradi­kaler schoss die damals 41-jährige LabourAbge­ordnete vor einer Bücherei in Nordenglan­d nieder und stach danach mit einem Messer auf sie ein. Cox starb drei Stunden später im Krankenhau­s. Ihre Idee aber lebte weiter. Mittlerwei­le gibt es – auch ihr zu Ehren – die Jo Cox Loneliness Commission. Politiker und derzeit 13 Wohlfahrts­organisati­onen suchen nach jenen konkreten Maßnahmen gegen Einsamkeit, die Cox zu finden gehofft hatte.

Im zurücklieg­enden Jahr wählte die Kommission jeden Monat einen anderen Schwerpunk­t des Themas: So ging es beispielsw­eise ausschließ­lich um die Einsamkeit bei Männern. Im Dezember veröffentl­ichte die Kommission ihren ersten Bericht, in dem sie neben einem mit dem Thema beauftragt­en Minister etwa mehr Studien und einen Innovation­sfonds fordert.

Für die Bundesregi­erung wäre es ein Leichtes, es den Briten gleichzutu­n. Und man möchte der Bundesregi­erung zurufen: Nun macht schon! Unser Gesundheit­ssystem ist hervorrage­nd. Doch es ist weithin auf physische Leiden ausgelegt. Indirekte Gesundheit­srisiken wie Einsamkeit oder auch Stress werden immer noch zu spärlich beleuchtet. Das muss sich ändern. Brexit hin oder her: Dieser britische Weg ist nachahmens­wert.

„Für das Alleinsein kann ich mich entscheide­n, Einsamkeit ist nichts

Freiwillig­es“

Psychologi­e-Professori­n

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