„Der Fall ist für Jugendgewalt untypisch“
Dietrich Oberwittler ist Forschungsgruppenleiter am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und Professor für Soziologie an der Universität Freiburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Jugendforschung und Kriminalsoziologie. Ist der Fall aus Lünen auch für Sie schwer zu erklären? DIETRICH OBERWITTLER Es ist ein ganz ungewöhnlicher Fall von schwerer Jugendgewalt. Zum einen eskaliert es auf eine solche Art unter Jugendlichen typischerweise nicht. Der Fall ist aber auch für die gesamte Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland untypisch. Wird die Jugend immer brutaler? OBERWITTLER Nein. Man muss die langfristigen Trends betrachten und die objektiven Daten. Und die zeigen, dass Gewalt unter Jugendlichen in Deutschland über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ganz deutlich abgenommen hat. Es gibt auch nur noch etwa halb so viele Tötungsdelikte wie vor 20 Jahren. Was ist schiefgelaufen, wenn ein 15Jähriger immer wieder durch Aggressivität auffällt? OBERWITTLER Ohne den Einzelfall im Detail zu kennen und bewerten zu wollen: Es wird deutlich, dass massive Probleme auf der Täterseite vorhanden gewesen sein müssen, um solch eine Tat auch zu begehen. Da können pathologische Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle spielen. Bei gewalttätigen Jugendlichen spielen ganz allgemein oft Anerkennungsdefizite eine Rolle. Sie wollen Probleme mit Gewalt lösen, sind leicht reizbar, oft fehlt es auch an Empathie. Das Verhalten in extremen Einzelfällen ist schwer zu durchschauen – und schwer zu prognostizieren.