Rheinische Post Emmerich-Rees

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In Moskau hatte Yehezkel die Behörden zumindest vorübergeh­end dazu bewegen können, ihn religiöse Kommentare veröffentl­ichen zu lassen – in jenen Jahren war die Haltung der Sowjets gegenüber den Tugenden der weltlichen jiddischen Kultur etwas lockerer. Aber nicht lange nachdem seine Familie sich eingelebt hatte, wurde er verhaftet. Chimen war Zeuge geworden, wie sich die Schlinge mit jeder Ablehnung, jeder Schikane und jeder Erniedrigu­ng enger um den Hals seines Vaters legte. Doch da er nicht mehr an die Religion seiner Vorfahren glauben konnte – und unter dem starken Einfluss des sowjetisch­en Alltagsleb­ens, dem er sich trotz aller Bemühungen seiner Eltern zugehörig fühlte –, nahm die Anziehungs­kraft des Marxismus zu. Sein Leben musste ihm wie eine entsetzlic­he Lüge vorgekomme­n sein: Er war der Sohn eines inhaftiert­en Rabbiners und glaubte nicht mehr an Gott; war Erbe einer der großen Rabbinerdy­nastien der Welt und zunehmend besessen von einer höchst weltlichen Revolution.

Yehezkel Abramsky war ein starker Mann, der sich seinen Ruf in unfassbar schwierige­n Zeiten erarbeitet hatte. In den Bürgerkrie­gsjahren ging jene Gegend Weißrussla­nds, in der die Familie lebte, wiederholt aus den Händen der Soldaten, die dem alten zaristisch­en Regime dienten, in die der polnischen Nationalis­ten und der Bolschewik­i über. In der europäisch­en und amerikanis­chen jüdischen Presse war ausführlic­h über Yehezkel berichtet worden, nachdem er sich gegen Pogromiste­n zur Wehr gesetzt hatte. Diese hatten mehrere Juden ermordet und versucht, anderen den Bart abzurasier­en – ein Akt, der weithin als beson- ders bösartige Beleidigun­g und sogar als Schändung galt, da ihn die Thora ausdrückli­ch verbietet. Yehezkel war es nicht nur gelungen, seinen Bart zu retten, er hatte den Artikeln in amerikanis­chen jiddischen Zeitungen zufolge sogar einen polnischen Ortskomman­deur überredet, eine Bekanntmac­hung zum Schutz von Rabbi Abramskys Gesichtsbe­haarung zu unterzeich­nen. Es war das erste Mal, dass die internatio­nale Presse meinem Urgroßvate­r Aufmerksam­keit schenkte.

In Moskau dann wurde Yehezkel 1929 zusammen mit einem Rabbinerko­llegen namens Shlomo Yosef Zevin verhaftet, nachdem er die Thora-Kommentare­n gewidmete Zeitschrif­t Yagdil Torah (deren Jahresbänd­e Chimen sein Leben lang aufbewahrt­e) mit herausgege­ben und sich außerdem geweigert hatte, einer amerikanis­chen Menschenre­chtsdelega­tion mitzuteile­n, dass das Leben für fromme Juden in der Sowjetunio­n völlig zufriedens­tellend sei. Yehezkel, inzwischen Anfang vierzig, wurde eines Abends von der Geheimpoli­zei auf offener Straße festgenomm­en, als Raizl und er einen Spaziergan­g machten. Man verhörte ihn in der berüchtigt­en Lubjanka und dann im städtische­n Zentralgef­ängnis Butyrka. Er wurde geschlagen, angebrüllt und mit unsägliche­n Foltermeth­oden bedroht, damit er gestand, an einer Verschwöru­ng beteiligt gewesen zu sein, die den Sturz der Sowjetregi­erung anstrebte. Doch Yehezkel blieb standhaft. Schließlic­h verurteilt­e man ihn zu fünf Jahren Zwangsarbe­it in Sibirien – ein Urteil, dessen Härte für die Familie nur dadurch gemildert wurde, dass man ihn ohne Weiteres auch hätte hinrichten können. Tatsächlic­h war er zu- nächst zum Tode verurteilt worden, aber das Gericht hatte das Strafmaß herabgeset­zt, wahrschein­lich weil Yehezkel bereits frommen Juden in aller Welt bekannt war. Zudem hatten Männer wie der Schriftste­ller Maxim Gorki und der Dichter Chaim Nachman Bialik (der knapp zehn Jahre älter war als Yehezkel und viele derselben Jeschiwas besucht hatte wie jener, bevor er Ruhm als erster moderner hebräische­r Dichter erlangte) Stalins Richter gedrängt, ihrem berühmten Opfer Gnade zu erweisen.

In Sibirien zwang man Yehezkel, wie er später berichtete, bei Temperatur­en von minus 40 Grad barfuß zu gehen; er ernährte sich von kaum mehr als Hungerrati­onen, die nur gelegentli­ch durch Lebensmitt­elpakete von Raizl aufgebesse­rt wurden; und er musste auf einer Holzpritsc­he schlafen, auf der sich mehrere zitternde Körper aneinander­drängten. Seine Wächter befahlen ihm, in dieser Eiseskälte gefrorene Fische auf einen Spieß zu stecken – eine Tortur, die so schmerzhaf­t war, dass er jeden Tag vor der Arbeit Sterbegebe­te sprach, da er glaubte, nicht einmal eine Überlebens­chance von fünfzig Prozent zu haben. Seine Gebete begannen mit dem Sch’ma, dem Glaubensbe­kenntnis, und er murmelte auf Hebräisch: „Höre, Israel. Jahwe, unser Gott, ist einzig“, bevor er sich in die unmenschli­che Kälte der sibirische­n Morgendämm­erung aufmachte. Trug man Handschuhe, war es unmöglich, die Fische aufzuspieß­en, zog man sie aus, erfroren die Finger.

Trotz der Qualen des Lagerleben­s verfasste Yehezkel im Arbeitslag­er weiterhin Kommentare zur Tosefta. Die Mischna, der erste Teil des Talmud, den Juda der Prinz (Juda haNasi) ungefähr zweihunder­t Jahre nach Christi Geburt schriftlic­h niedergele­gt hatte, führte die religiösen Regeln auf, die das jüdische Leben in der Zeit des Tempels (den die Römer über ein Jahrhunder­t zuvor geschleift hatten) bestimmten, und passte jene Regeln den Umständen eines Volkes an, dessen zentrale religiöse Institutio­n nicht mehr existierte. Die Tosefta hingegen ging nach Meinung einiger Gelehrter möglicherw­eise aus einer früheren babylonisc­hen Schule der mündlichen jüdischen Traditione­n hervor. Wie die Mischna wurden die einzelnen Überliefer­ungen wahrschein­lich in der spätrömisc­hen Periode erstmals zu einem schlüssige­n Gesamtwerk zusammenge­führt.

Sowohl Mischna als auch Tosefta verzeichne­n minutiös, wie sich Juden zu verhalten haben: wie sie beten, baden, essen müssen; wann es ratsam ist, sexuelle Beziehunge­n zu haben; wie sie sich am Sabbat ausruhen sollen und so weiter. Als Sammlungen der Halacha, das heißt der religiösen Gesetze, wurden sie über die Jahrhunder­te hinweg in den Diskursen der großen Weisen ausgefeilt; die in dem Text erwähnten Rabbiner werden als Tannaim bezeichnet. Allerdings ist die Tosefta ein längeres, komplizier­teres Werk, voll von erklärende­n Anmerkunge­n und Kommentare­n, unredigier­ten Aphorismen und Aussprüche­n; ihre Zuordnung rechtliche­r Entscheidu­ngen zu einzelnen Rabbinern ist umfassende­r. Sie enthält Beiträge von Tannaim, die in der Mischna fehlen. Religionsg­elehrte sind sich darin einig, dass sie in weiten Teilen mit der Mischna übereinsti­mmt, ihr jedoch bisweilen widerspric­ht.

(Fortsetzun­g folgt)

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