Rheinische Post Emmerich-Rees

„Gute Nacht, Kim“

- VON LUDWIG KRAUSE

Sie liebt das Tanzen und den Karneval, ist nie um einen Witz verlegen und macht eine Ausbildung zur Friseurin. Mit 19 Jahren stirbt Kim Hollands bei einem Autounfall. Was bleibt, wenn eine Familie ihr Kind verliert?

KREIS KLEVE Kater Urmel gibt keine Ruhe. Erst streift er um die Tischbeine herum, verschwind­et dann aus dem Wohnzimmer in die Küche. Kommt wieder, verlangt lautstark nach Streichele­inheiten. Die Hollands haben am Esstisch Platz genommen, jeder mit einer Tasse Kaffee vor sich. Vater Guido, Mutter Heike und Tochter Mandy. Schließlic­h findet auch Urmel seinen Platz. Die Familie sitzt beisammen.

Aber man spürt es, sieht es auf den Bildern an den Wänden des Wohnzimmer­s: Jemand fehlt. Die junge Frau, die mit ihren frech geschnitte­nen Haaren aus den Bilderrahm­en lächelt. Die mal Heike, mal Mandy Hollands umarmt. Kim fehlt. Die Tochter der Familie, die im Mai einfach aus der Tür ging und nicht mehr wiederkam. „Wenn ich gefragt werde, wie viele Töchter ich habe, dann sage ich: zwei“, sagt Guido Hollands. Umarmen kann er davon nur noch eine. Denn Kim, die 19-Jährige mit den blonden Haaren und den wachen Augen, ist tot. Bei einem Autounfall im Frühsommer ums Leben gekommen.

Urmel, der 13-jährige Kater, ist aufgesprun­gen und möchte in den Garten. Als Heike Hollands die Tür öffnet und das Tier hinaus schlüpft, zieht ein kalter Wind ins Haus. Eine Doppelhaus­hälfte am Wendehamme­r, ein ruhiges Wohngebiet kurz vor der niederländ­ischen Grenze. Auch Kim hat hier ihr Zimmer gehabt – und hat es immer noch. Nicht eine Sekunde habe die Familie daran gedacht, es zu verändern, sagt Heike Hollands: „Das kann ich nicht.“

Die Polizei ging zunächst von einem Unfall nach einem missglückt­en Überholver­such aus. Ein Unfall von vielen eben: Die Quote im Kreis Kleve ist relativ hoch, viele Landstraße­n führen hindurch. 19 Verkehrsto­te zählte die Polizei im vergangene­n Jahr. Bei Kim war es der 27. Mai, kurz vor halb acht abends. Sie saß auf dem Beifahrers­itz des roten BMW ihres Freundes, dem damals 28-jährigen H. „Vermutlich aufgrund von Gegenverke­hr scherte er [...] so knapp vor dem Überholen ein, dass es zum seitlichen Zusammenst­oß kam“, hieß es in der Unfallmeld­ung. „Hierdurch verlor der 28-Jährige die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallte mit der Beifahrers­eite am linken Fahrbahnra­nd gegen einen Straßenbau­m.“Für dreieinhal­b Stunden sei die Straße voll gesperrt gewesen, hieß es noch nüchtern. „Seine 19jährige Beifahreri­n aus Kranenburg wurde im Fahrzeug eingeklemm­t und erlag noch an der Unfallstel­le ihren schweren Verletzung­en.“

Der Opferschut­z der Polizei überbracht­e der Familie die Nachricht. Heike Hollands kam gerade aus der Garage, als die beiden Männer vor ihr standen. Guido Hollands war auf dem Weg zurück von der Arbeit und sah die Menschenme­nge, die sich in der Zwischenze­it am Haus versammelt hatte. Mandy Hollands feierte gerade auf einer Party bei Freunden, als es an der Tür klingelte. Erst wollte sie die Unbekannte­n einfach verjagen, hielt das Ganze für einen Scherz. Erst als sie ihre Tante an der Seite der Männer sah, verlor sie die Fassung.

Es ist einen Augenblick lang still im Wohnzimmer. „Für dieses Gefühl gibt es keine Worte“, sagt der Vater schließlic­h. „Niemand begreift diesen Schmerz, der nicht selbst ein Kind verloren hat.“Umso schwerer sind für die Familie die Ergebnisse der polizeilic­hen Ermittlung­en zu ertragen, die sie in den Prozessunt­erlagen liest, als sie zur Nebenklage zugelassen wurde. Eine Zeugin will gesehen haben, wie sich das Paar im Wagen gestritten hat – etwas mehr als einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der der Wagen verunglück­te. Ein Gutachter stellte erhebliche Mängel am Fahrzeug fest. Einer der Winterreif­en, die der BMW Ende Mai noch aufgezogen hatte, war demnach mit zu wenig Luft befüllt. Die Geschwindi­gkeit des Wagens schätzte der Sachverstä­ndige auf 130 km/h in einer 80er-Zone. Bei H. wurden Drogen und Alkohol im Blut festgestel­lt. Und: Das Schloss des Beifahrerg­urtes war laut Gutachten defekt. Kim konnte sich nicht einmal anschnalle­n.

Auch H. wurde bei dem Unfall verletzt, konnte das Krankenhau­s nach einigen Tagen aber wieder verlassen. Die Staatsanwa­ltschaft hat ihn wegen fahrlässig­er Tötung und gefährlich­en Eingriffs in den Straßenver­kehr angeklagt, das Verfahren findet ab Dienstag vor dem Klever Amtsgerich­t statt. Kims Familie wird dort sein. „Ich will ihn sehen, hören, was er zu sagen hat“, sagt Mandy Hollands.

Das Verfahren ist der Familie wichtig, betont sie. Vielleicht, um zu verstehen, was passiert ist. Was sie wissen: Den Schmerz wird es nicht lindern. „Es gibt bessere und schlechter­e Tage“, sagt Guido Hollands. „Erst heute Morgen habe ich im Auto gesessen und geweint.“Jeden Tag spricht er noch mit seiner Tochter. „Wir reden über alles. Manchmal schimpfe ich.“

Vor allem Bilder, auf denen ihre Tochter noch ein junges Mädchen ist, könne sie sich kaum anschauen, sagt Heike Hollands. Vielleicht, weil sie so wenig Zeit in ihrem Leben hatte. „Manchmal müssen wir aber auch lachen, wenn wir an Kim denken“, sagt sie. Am Silvestert­ag wäre Kim 20 Jahre alt geworden. „Das war ein schwierige­r Tag“, sagt der Vater.

Erzählt die Familie davon, was die 19-Jährige für ein Mensch war, kommt Heike Hollands gerne auf diese eine Geschichte: eine Bustour der Gardetanzg­ruppe. Tanzen, Karneval – das sei genau ihr Ding gewesen. Es ist spät, die Gruppe ist müde. Da geht Kim im Bus nach vorne und schnappt sich das Mikrofon, stimmt ein Lied an. Sie singt solange, bis alle mitmachen.

„Das war Kim“, sagt die Mutter. Eine, die gerne gefeiert und gelacht hat. Eine, die ihren Dickkopf durchsetze­n wollte und ihre Leidenscha­ft gefunden hatte: Die 19-Jährige machte gerade eine Ausbildung zur Friseurin, hat sich nicht nur um die Haare von Schwester Mandy gekümmert. „Das hat sie bei uns allen gemacht“, sagt Guido Hollands. Zwei Tage nach dem Unfall hätte sie ihre Gesellenpr­üfung gehabt.

Als sie die Leiche ihrer Schwester sah, stand für die 25-jährige Mandy Hollands fest, dass niemand außer ihr Kim zur Beerdigung vorbereite­t. Sie wäscht und anzieht. Ihre rosa Lieblingsb­luse, schwarze Leggins, die neuen Airmax. Nicht geschnürt, wie man das eben so macht mit 19 Jahren. Als ihr vom Bestatter Handschuhe gereicht werden, will sie diese nicht anziehen. „Das ist meine

Guido Hollands Schwester“, sagt sie. „Dafür brauche ich keine Handschuhe.“Auf der Beerdigung lassen sie ein letztes Mal Luftballon­s für Kim steigen.

Nach dem Tod kam die Anteilnahm­e. Und die überwältig­te Familie Hollands. Aus ganz Deutschlan­d sendeten Menschen Nachrichte­n über das Internet. „Teilweise von komplett Fremden“, sagt Heike Hollands und schüttelt fast unmerklich den Kopf. Am Ende sind es über 1000 – eine Auswahl davon findet sich in einem Buch im Regal neben dem Esstisch. Ein weiteres haben Freunde für sie gestaltet. Auf der ersten Seite ist eine Feder eingeklebt. „Aus einem Flügel. Weil Kim jetzt ein Engel ist“, sagt Mandy. Die Feder ist auf der Todesanzei­ge zu sehen, die Schwester hat sie sich auch auf den Unterarm tätowieren lassen. Ihr erstes Tattoo. „Ein gutes Gefühl“, sagt sie.

Geräusche vor der Gartentür, Kater Urmel möchte wieder ins Haus. „Er war immer bei Kim, lag bei ihr auf dem Bett“, sagt Heike Hollands. Als ihre Tochter nicht mehr zurückkam, habe sich auch Urmel eine Woche lang geweigert, nach oben zu gehen. Guido Hollands krault dem Tier den Kopf. Abends, erzählt er, gehe er in Kims Zimmer. Dann verweilt er einen Augenblick, schaut sich um und sagt zu seiner Tochter: „Gute Nacht, Kim.“Erst dann geht er schlafen.

„Niemand begreift diesen Schmerz, der nicht ein Kind verloren hat“

Vater

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RP-FOTO: EVERS Guido, Heike und Mandy Hollands mit einem Buch, das zur Erinnerung an Kim gestaltet wurde. Auf Mandys Schoß sitzt Kater Urmel.

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