Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Haus der 20.000 Bücher

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Das tat er nicht, weil es ihn am Kopf fror, sondern, vermute ich, damit seine frommen Kunden und die Freunde seiner Eltern, die in den Laden kamen, nicht bemerkten, dass er keine Kippa aufhatte. Bereits seit Jahren verzichtet­e er im Alltag auf das Käppchen, aber er setzte es weiterhin auf, wenn er seinen Vater besuchte. Obwohl er seinen Parteigeno­ssen erklärte, dass seine Eltern „reaktionär“seien, wollte er sie auf keinen Fall unnötig kränken. Auch wenn seine Eltern wussten, dass er nicht gläubig war, so brauchten ihre Freunde es nicht ebenfalls zu erfahren.

An Menschen, die in ihrem Glauben schwankten oder sich der weltlichen Kultur anpassen wollten, konnte Yehezkel vernichten­de Kritik üben. 1934, als er zum dajan (Richter) am Londoner Beth Din, dem Rabbinatsg­ericht, ernannt worden war, hieß es in einem Leitartike­l des Jewish Chronicle, das Anglo-Judentum werde von religiösen Extremiste­n aus fernen Ländern „gekapert“, von Männern, die wenig oder kein Englisch sprächen, sich kaum für die jüdische Kultur im Allgemeine­n interessie­rten und lediglich bestrebt seien, ihren Glaubensbr­üdern und -schwestern starre Rituale aufzuerleg­en. Ein Kommentato­r schrieb, Männer wie Yehezkel Abramsky förderten „fremde Dogmen und Bräuche sowie einen Aberglaube­n, die nie zuvor Teil des Judentums gewesen sind, außer in dunklen Winkeln in den Ghettos von Osteuropa“. Die Antwort des Rabbis lautete: „Mein Ziel ist es, die Jiddischke­it sowohl in der Praxis als auch in der Kenntnis des Judaismus zu stärken.“Die Historiker­in Miri Freud-Kandel aus Oxford schrieb im Jahr 2006, Yehezkel Abramsky habe die britischen Juden polarisier­t.

Ähnlich wie die Verfassung der Vereinigte­n Staaten durch jede Generation Rechtswiss­enschaftle­r wieder neu interpreti­ert wird, damit Entscheidu­ngen etwa zur Gesetzmäßi­gkeit der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe oder des Rechtes, Waffen zu tragen, getroffen werden können, liefert der Talmud den theoretisc­hen Rahmen, innerhalb dessen später entstanden­e Texte – der Schulchan Aruch und andere Codices – gelesen werden können, um die Regeln für zeitgemäße Verhaltens­weisen festzulege­n. Für die orthodoxen Gläubigen in London wurden viele Alltagsbrä­uche – von den Ritualen bei Geburt, Eheschließ­ung und im Todesfall bis hin zu ihren Nahrungsmi­tteln – von den Entscheidu­ngen des Beth Din bestimmt. Dadurch errangen die führenden Deuter des Talmud – und die verschiede­nen Kommentare, die im Laufe der Jahrtausen­de über ihn geschriebe­n wurden – einen ungeheuren Einfluss. In den Augen seiner orthodoxen Anhänger war Yehezkels Status vergleichb­ar mit dem von Oliver Wendell Holmes, dem Richter am Obersten Gerichtsho­f, für Wissenscha­ftler, die sich mit der Verfassung in den Vereinigte­n Staaten auseinande­rsetzen. Das Schicksal des britischen Oberrabbin­ers lag in seiner Hand, denn jeder, der dieses Amt anstrebte, benötigte seine Zustimmung. Ein Wort von ihm konnte die Karriere junger Rabbiner zunichtema­chen (was gelegentli­ch vorkam), wenn er mit deren Auslegunge­n der Thora nicht einverstan­den war. 1948, fast drei Jahre nach dem Tod des altgedient­en Oberrabbin­ers J. H. Hertz, trug Yehezkel dazu bei, dass Israel Brodie den Pos- ten erhielt, doch erst nachdem Brodie „die Weisungsbe­fugnis in religiösen Angelegenh­eiten unzweideut­ig Dajan Abramsky übertragen“hatte, wie Freud-Kandel schrieb. Oberrabbin­er seien zweckmäßig­e Repräsenta­tionsfigur­en, fuhr die Historiker­in fort, aber Yehezkel Abramsky sei ausschlagg­ebend dafür gewesen, wie die Gemeinde die Religionsg­esetze interpreti­ere. Ihrer Meinung nach war Yehezkel ein überaus erfolgreic­her politische­r Strippenzi­eher, doch all seine Machenscha­ften hätten nur zwei Ziele gehabt: die Frömmigkei­t der jüdischen Bevölkerun­g Großbritan­niens zu stärken und den Einfluss konservati­ver religiöser Autoritäts­personen zu erhöhen.

Chimen hatte also gute Gründe zu vermeiden, dass die Freunde seiner Eltern Yehezkel und Raizl meldeten, ihr dritter Sohn trage seinen Atheismus ungehemmt zur Schau. Er wollte nicht, dass die Missbillig­ung, mit der sein Vater Mimis und seine Weltanscha­uung bedachte, den Weg in die Öffentlich­keit fand. Dieses Doppellebe­n erhielt Chimen jahrzehnte­lang aufrecht. Der Sitz des Beth Din lag in der Hanbury Street, ein paar Straßen vom Laden entfernt; und die Synagoge Machzikei Hadath, in der Yehezkel als Rabbiner gedient hatte, bevor er Vorsitzend­er des Beth Din wurde, war noch näher gelegen, nämlich an der Ecke Brick Lane und Fournier Street. Suchten Yehezkel oder einer seiner Rabbinerfr­eunde den Buchladen auf, war Chimen sogleich in der Lage, ein Gespräch über den Talmud zu beginnen. Und wenn seine kommunisti­schen Parteigeno­ssen, etwa der in der Nachbarsch­aft ansässige Schneider Mick Mindel, vorbeischa­uten, fiel es ihm genauso leicht, bei einer Tasse Tee über mar- xistische Dialektik zu plaudern. – Vor großen religiösen Feiertagen wimmelte es bei Shapiro, Valentine & Co. von Kunden, die Haggadot (Bücher für den Sederabend des Pessachfes­tes), jüdische Kalender, Almanache, Gebetbüche­r oder die zitronenäh­nliche Etrog-Frucht und Palmwedel für die Rituale am Sukkot (Laubhütten­fest) erwerben wollten. In den Tagen vor Rosch haSchana (dem jüdischen Neujahr) und Jom Kippur (dem Versöhnung­stag) musste die gesamte Großfamili­e anrücken, damit man des Andrangs von Kunden Herr wurde, die Neujahrska­rten und die für die Feiertage benötigten religiösen Utensilien kauften. Wenn der Laden am Ende eines langen Tages schloss, wurde Jenny, damals noch ein kleines Mädchen, mit der Aufgabe betraut, die Tageseinna­hmen zu zählen.

Am Freitagnac­hmittag wurde die Ladentür verschloss­en und verriegelt. Die Kunden blieben zu Hause, um sich auf das Sabbatmahl vorzuberei­ten, bevor sie am Samstag die Synagoge aufsuchten. Doch am Sonntag öffneten sich die Türen erneut, wobei die Menschen nicht nur von dem Angebot bei Shapiro, Valentine & Co. und in den weiteren Geschäften zu beiden Seiten der Wentworth Street angelockt wurden, sondern auch von den Buden des Petticoat-Lane-Straßenmar­ktes, der über die Wentworth Street verlief, direkt am Eingang des alten Buchladens vorbei. An solchen Tagen war das Viertel bis weit in die sechziger Jahre hinein so laut, lebenssprü­hend und überfüllt wie die großen Londoner Märkte und Jahrmärkte vergangene­r Zeiten.

(Fortsetzun­g folgt)

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