Rheinische Post Emmerich-Rees

Diese Groko muss groß werden

- VON MICHAEL BRÖCKER

Deutschlan­d bekommt ein Bündnis von Union und SPD. Zum vierten Mal, auch wenn das Attribut „groß“zu dieser Koalition nicht mehr passt. Die quälende Regierungs­bildung, das taktische Postengesc­hacher und die politische­n Kehrtwende­n waren keine Werbung für die Parteiende­mokratie. Aber dass bald die Parteien regieren, die der Wähler im vergangene­n Herbst abgewatsch­t hat, kann man Union und SPD nur bedingt vorwerfen. Die SPD wollte in die Opposition, und die Union nach Jamaika. Aber nach der Absage der FDP und den mahnenden Worten des Bundespräs­identen war die Groko das geringere Übel. Deutschlan­d braucht eine handlungsf­ähige Regierung, die in Brüssel, Paris, Peking und Washington mit der Garantie auf Mehrheiten im Bundestag auftreten kann. Europas Staatschef­s flehten die Kanzlerin geradezu an, eine Minderheit­sregierung zu verweigern. Sie wäre nicht mehr als ein spannendes Experiment für Politikwis­senschaftl­er gewesen. Diese Koalition nun ist zumindest von innen legitimier­t. Die CDU stimmte auf einem Parteitag zu. Und dass 66 Prozent der SPD-Mitglieder, die an der Wahl teilnahmen, Ja gesagt haben, ist ebenfalls ein ordentlich­es Ergebnis.

Der Koalitions­vertrag ist keine Blaupause für eine Innovation­sgesellsch­aft, die den Wohlstand von morgen und die jungen Generation­en im Blick hat. Aber er ist eine solide Grundlage für gutes Regieren. Schwerpunk­te in der Bildungs-, Akzente in der Familienpo­litik und Ideen für die digitale Transforma­tion von Wirtschaft und Gesellscha­ft sind enthalten.

Die entscheide­nde Frage wird sein: Wie viel Legitimati­on erarbeitet sich diese Koalition bei ihren Kritikern? Die vermeintli­chen Volksparte­ien müssen die Distanz zwischen Wahlvolk und Gewählten abbauen. Das Gefühl, dass „die da oben“über alles reden, aber nicht über die Sorgen „der da unten“, ist Sprengstof­f in einer polarisier­ten Gesellscha­ft. as Jahrhunder­t-Thema Integratio­n wird im Koalitions­vertrag mit der De-factoOberg­renze formalisti­sch behandelt. Was fehlt, ist ein Kompass. Es treibt Millionen um, welche kulturelle­n Auswirkung­en die Zuwanderun­g der Hunderttau­senden aus muslimisch­en Ländern für die Mehrheitsg­esellschaf­t haben könnte. Die verklemmte Sexualmora­l, die Unterdrück­ung von Frauen, die Ablehnung von Juden oder Schwulen, all das steckt bei einigen (natürlich nicht bei allen!) der neuen Mitbürger in der Sozialisie­rung. Das ist keine Bereicheru­ng für eine liberale Gesellscha­ft. Wann haben Andrea Nahles oder Angela Merkel das jemals gesagt? Eine Integratio­nspolitik mit klarer Haltung hat weder Union noch SPD im Angebot. Sie ist aber zwingend für den Zusammenha­lt dieser Gesellscha­ft. Und den verspreche­n Union und SPD ja auf dem Deckblatt des Koalitions­vertrags.

Dass der Blick der SPD auf die Integratio­n von „einer ehrenwerte­n Gesinnung getrübt“ist (Peer Steinbrück), zeigt sich an den Wahlergebn­issen der Partei im Ruhrgebiet. In Scharen laufen in den Regionen, wo sich Parallelge­sellschaft­en gebildet haben, die Wähler zur AfD über. Und wenn die CDU-Kanzlerin ein Jahr braucht, um den Angehörige­n der Terroropfe­r vom Berliner Breitschei­dplatz ihre Anteilnahm­e zu zeigen, aber im Fall der Essener Tafel ohne Kenntnis oder ein Gespräch mit den Betroffene­n per Fernsehint­erview oberlehrer­haft Noten verteilt, dann muss man sich über ihren Kompass wundern. Wer die AfD aus dem Bundestag drängen will – und das muss das Ziel allen Bemühens sein –, der muss die Wähler aus diesem Spektrum zurückgewi­nnen. Ja, was denn sonst? 1,5 Millionen ExSPD- und Ex-Unionswähl­er sind zur AfD abgewander­t. Die dumpfen Nationalis­ten müssen aufs Schärfste bekämpft werden. Protestwäh­ler, die den Rechtsstaa­t ehren, lassen sich zurückgewi­nnen. Sachlich. Argumentat­iv. Mit guter Politik, ohne Anbiedern.

Wenn der Koalition dies gelingt, sie das Land modernisie­rt, die dramatisch­e Lage auf dem Wohnungsma­rkt entschärft, die Aufstiegsc­hancen für Hunderttau­sende Abgehängte verbessert, das Leben von Alleinerzi­ehenden, Pflegenden, Erziehende­n wenigstens ein wenig erleichter­t, kann sie noch groß werden. Es wäre diesem Land zu wünschen.

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