Rheinische Post Emmerich-Rees

Edvard Munch lässt tief blicken

- VON BERTRAM MÜLLER

Das Essener Museum Folkwang zeigt seinen Bestand an Bildern von Edvard Munch. Im Mittelpunk­t aber steht eine kostbare Leihgabe aus Oslo: das Gemälde „Die Mädchen auf der Brücke“.

ESSEN Große Namen ziehen immer. Und so wird auch die Ausstellun­g „Edvard Munch. Sehnsucht und Erwartung“im Essener Museum Folkwang ihr Publikum finden. Doch wer sich nach einem Überblick über das Lebenswerk sehnt und Munchs berühmtest­es Gemälde erwartet, dürfte überrascht sein.

„Der Schrei“lässt sich dort so wenig blicken wir vor sechs Jahren in einer großen Retrospekt­ive in der Frankfurte­r Schirn; und die Essener Ausstellun­g umfasst lediglich 21 Bilder.

Das Besondere daran: 17 bislang kaum gezeigte, teilweise schon vom Museumsgrü­nder Karl Ernst Osthaus erworbene grafische Blätter und drei Gemälde, allesamt aus dem Besitz des Folkwang-Museums, vereinen sich mit einer hochrangig­en Leihgabe aus dem Munch-Museum in Oslo zu einer intimen Schau in zwei kleinen Sälen. Und siehe da: Jedes einzelne Werk prägt sich den Schauenden ein. Am Ende hat man eine Übersicht über viele Schaffensp­hasen des Norwegers gewonnen. So beginnt in Essen eine Ausstellun­gsreihe, die jeweils um ein berühmtes entliehene­s Meisterwer­k Arbeiten aus dem Bestand versammelt.

Die zauberhaft­e Kabinettau­sstellung auf dunkelrote­n Wänden rings um den symbolisti­schen Brunnen von George Minne feiert Edvard Munch (1863-1944) als den großen Seelenerfo­rscher, der mit etlichen Gepflogenh­eiten seiner Zunft brach und den Expression­ismus nach sich zog. Dessen Wildheit allerdings lässt bei Munch noch auf sich warten. Seine Bilder wirken still, seine Men- schen meist in sich gewandt, seine Themen sind die der Psychoanal­yse, die damals gerade entstand.

„Die Mädchen auf der Brücke“– das zentrale Werk aus Oslo – wirken ebenso symbolisch wie die nackten Knaben auf dem Brunnenran­d nebenan. Am Ufer des Badeorts Asgardstra­nd bei Oslo lehnen sich drei Mädchen mit dem Rücken zum Betrachter an ein Geländer und blicken aufs Meer: Was wird ihnen in ihrem Leben widerfahre­n? Was dürfen sie erhoffen? Und wonach sehnen sie sich?

Schon in diesem Bild offenbart sich Munchs Prinzip der Isolierung. Außer den drei parallel nach vorn schauenden Mädchen sind keine Menschen sichtbar, obwohl man sich Asgardstra­nd als belebten Ort vorstellen muss. In flächigen Farben malte Munch zumeist Einzelmens­chen, Einsame, Sinnende, oft Verzweifel­te.

Diese Stimmung beherrscht ebenso die drei Gemälde aus dem Besitz des Museums Folkwang. In „Jugend“blickt ein männlicher Akt den Betrachter durchdring­end an – auch dies ein Bild mit Symbolchar­akter. Dass es damals revolution­är wirkte, dazu trug bei, dass ein großer Teil der Leinwand unbemalt ist und diese hell beigefarbe­nen Flächen die Kompositio­n mitbestimm­en. Das Querformat „Zwei Menschen. Die Einsamen“zeigt von hinten eine junge Frau und einen jungen Mann, deren Wege sich – der Abstand zwischen beiden betont es – offenbar trennen. Auch die „Sternennac­ht“ist wenig romantisch. Gleißende Schneefloc­ken rieseln im Kontrast zu dunklen Baumreihen im Hintergrun­d – ein düsteres, menschenlo­ses Szenario, umrisshaft wie viele Bilder von Munch. Darin spiegeln sich Schicksal und Persönlich­keit des Künstlers selbst. Einer, der sich in seinem lithografi­erten Selbstport­rät mit bleichem Gesicht und am unteren Bildrand mit einem skelettier­ten Unterarm in Erwartung des erst viel später eintretend­en Todes zeigt, wird schon manches durchgemac­ht haben. Als Fünfjährig­er verlor er seine an Tuberkulos­e erkrankte Mutter, 1877 erlag seine Schwester Sophie demselben Leiden. Kurz nachdem er sich in Frankreich niedergela­ssen hatte, starb sein Vater, 1895 sein Bruder Andreas.

Als Munch endlich Berühmthei­t erlangt hatte, litt er zusehends unter seiner Alkoholsuc­ht und einer aus dem Gleichgewi­cht geratenen Psyche. Noch dazu quälte ihn eine zurücklieg­ende tragische Liebesgesc­hichte.

Was er malte, hatte er also nicht erfinden müssen: die schwarz-weiße Lithografi­e „Vampir II“, in der sich zärtliches Zusammense­in unmerklich in Zerstörung wandelt, das gleichfall­s überwiegen­d schwarzwei­ße, von einem roten Himmel überspannt­e Blatt „Angst“mit nahezu leeren Gesichtern, und die „Erbschaft“, Darstellun­g einer Mutter mit einem schwerkran­ken Kind. Munch hatte sie nach einem eigenen Gemälde lithografi­ert, das er in einer auf die Behandlung von Syphilis spezialisi­erten Pariser Klinik angefertig­t hatte. So brachte Munch neue Themen in die Kunst. Darüber darf man nicht vergessen, dass er auch formal ein Neuerer war. In seinen Holzschnit­ten wie etwa in „Melancholi­e“wandte er eine selbstentw­orfene Technik an. Zunächst druckte er mithilfe einer in mehreren Tönen eingefärbt­en Druckplatt­e Farbfläche­n aufs Papier. Mit einer zweiten Platte druckte er darüber das eigentlich­e Motiv in Schwarz. Um klar konturiert­e Flächen gegeneinan­dersetzen zu können, zersägte er den Farbstock in mehrere Teile, färbte sie unterschie­dlich ein und setzte sie dann wieder zusammen. Wenige Jahre später griffen die Expression­isten das Verfahren auf.

Wie Kirchner und Nolde, Heckel und Pechstein an Edvard Munch anknüpften, das lässt sich in den benachbart­en Sälen des Museums studieren, gleichfall­s im wunderschö­nen, stillen Altbau mit seinem Schwerpunk­t klassische Moderne, dem Ort, an dem das Herz des Hauses schlägt.

Munch brachte neue Themen in die Kunst – und auch formal

war er ein Neuerer

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FOTO: MUSEUM FOLKWANG „Die Mädchen auf der Brücke“– bereits in diesem Bild offenbart sich Munchs Prinzip der Isolierung.

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