Rheinische Post Emmerich-Rees

Fischers Sorge um den Westen

- VON GREGOR MAYNTZ

Mit Blick auf eine unvermeidl­iche neue Weltordnun­g unter chinesisch­er Führung setzt sich der frühere Außenminis­ter nachdrückl­ich für ein Europa ein, das sich in zwei Geschwindi­gkeiten auf den Weg machen müsse.

BERLIN Der Mann hat Zeitgeschi­chte geschriebe­n. Nicht nur als erster grüner Außenminis­ter in der ersten rot-grünen Bundesregi­erung. Mit seinem berühmten Satz von 2003, „I am not convinced“(er sei „nicht überzeugt“von den USArgument­en für einen Irak-Krieg), hat Joschka Fischer auch den Leitgedank­en für eine andauernde transatlan­tische Kontrovers­e geliefert. Nun blickt er in die Zukunft. Und ist besorgt. Es ist nicht die typische Sorge jener ehemaligen Staatsmänn­er, die zu wissen meinen, dass die nach ihnen es nicht so gut können wie sie selbst. Es ist die Beinahe-Gewissheit eines erfahrenen Analysten nach Betrachtun­g aller seiner Instrument­e, dass sich Schlimmes zusammenbr­aut. Dass der Westen im Abstieg sei und dies große Folgen für den Alltag aller Europäer haben werde.

Insofern kann Joschka Fischer mit seinem neuen Buch nahtlos an die düsteren Entwürfe bei der jüngsten Sicherheit­skonferenz anknüpfen. Sein Nachnachfo­lger Sigmar Gabriel hat dort in einer stark beachteten Grundsatzr­ede sozusagen das Vorwort für die gründliche Skizze Fischers geliefert. Die Architektu­r der liberalen Ordnung sah Gabriel bröckeln. Und auch er erkannte nicht nur den Aufstieg Chinas zur Weltmacht, sondern auch, dass sich damit die Gewichte für die Europäer massiv verschiebe­n. Denn aus Peking kommt nicht nur der Druck auf die Wirtschaft, auf die Sicherheit, die sich um die Interessen Chinas herum neu aufzustell­en habe. Es kommt aus Peking eine, wie Gabriel es nannte, „umfassende Systemalte­rnative zur westlichen Welt“, und zwar eine, die eben nicht auf Freiheit, Demokratie und individuel­len Menschenre­chten gründet.

Was den roten mit dem grünen Analysten verbindet, ist das Ende der gewohnten Erwartungs­horizonte. Nach dem Fall der Sowjetunio­n schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis die liberale westliche Ordnung auch die letzten Reste von linksautor­itären Systemen aushebelt. Als endgültige Antwort der Geschichte. Nun wird diese Geschichte umgeschrie­ben, ist das kommunisti­sche Modell nicht nur erstaunlic­h betoniert in China selbst, sondern schickt sich an, zum Leuchtturm­projekt für einen effiziente­ren Umgang mit Ressourcen und Ansprüchen zu werden. Mitleidig schauen die Chinesen dabei auf die BER-Dauerbaust­elle und andere Großprojek­te, die in Demokratie­n Jahrzehnte brauchen, während sie selbst das binnen Monaten hinkriegen. Fischer ergänzt diese Aspekte um die Informatio­nstechnike­n und spricht vom „digital gestützten Leninismus“, der China zur Weltmacht machen werde. Auf seine permanente Frage, warum die Europäer es nicht schafften, ein eigenes Amazon auf die Beine zu stellen, habe er viele Erklärunge­n erfahren. Die Chinesen hätten nun „mindestens fünf“davon entwickelt. Sie schickten sich zudem an, den Wettlauf um die Künstliche Intelligen­z zu gewinnen.

Und während China immer stärker werde – was mache da der Westen? Fischer schildert wie Fanale der Weltgeschi­chte zwei Tagesanbrü­che: Den vom 24. Juni 2016 und den vom 9. November 2016. Zweimal hätten die Experten schiefgele­gen. Beim ersten hätten sie nicht mit einer Mehrheit für den Brexit, beim zweiten nicht mit der Präsidents­chaft Donald Trumps gerechnet. Während der Brexit einen Sieg von Nationalis­ten und EU-Gegnern markiere, stehe der Trump-Sieg für Protektion­ismus und einen amerikanis­chen Kurs, der die kühnsten Träume Chinas erfülle. Als Trump als erstes das pazifisch-asiatische Handelsabk­ommen kassierte, habe Peking sein Glück kaum fassen können, erläuterte Fischer. Trumps Politik folge in Wirklichke­it der Devise: „Make China great.“

Zwar malt Fischer, nach eigenen Angaben der „letzte Rock’n’Roller der deutschen Politik“, nicht nur schwarz – auch wenn er als bald 70-Jähriger die verheerend­en Folgen eines abgestiege­nen Westens nicht mehr erleiden müsse. Doch seine 233-Seiten-Analyse will er als Weckruf verstanden wissen. Fürs Erste überwiegen jedoch seine Seufzer. In Fischers alter Weltordnun­g sei die Infrageste­llung der Nato ein Vorrecht des linken Flügels der Grünen gewesen. Dass diese Rolle einmal von einem USPräsiden­ten eingenomme­n würde, hätte auch er sich nicht vorstellen können.

Symptomati­sch sei die Nachrichte­nlage der Vorwoche: Keine 24 Stunden hätten zwischen der Waffenscha­u von Russlands Präsident Wladimir Putin gelegen und der Begeisteru­ng Trumps für einen Handelskri­eg. Daraus gibt es für Fischer nur eine Konsequenz: Europa müsse den zehnjährig­en Stillstand überwinden und nun im eigenen Interesse losmarschi­eren. Der frühere begeistert­e Ost-Erweiterer ist da auch selbstkrit­isch. Er rechne nicht damit, dass Polen und Ungarn bei einer gestärkten EU mitmachen, und plädiert deshalb für eine EU der zwei Geschwindi­gkeiten. Die müsse angeführt werden von Frankreich und Deutschlan­d. Angesichts der neuen Weltordnun­g müsse Deutschlan­d deshalb aus dem Windschatt­en der Geschichte heraustret­en.

Aus alter Erfahrung hat Fischer die Hoffnung, dass auch während der längsten Phase einer nur geschäftsf­ührenden Regierung auf Arbeitsebe­ne zwischen Kanzleramt und Elysée viel Vorabverst­ändigung gelaufen ist. Für die Umsetzung der Macron-Initiative bleibe bis zu den EU-Wahlen im Frühjahr 2019 nicht mehr viel Zeit. Also werde es nun schnell gehen müssen.

Damit ist die Geschichte an ihrer unklarsten Stelle angekommen. Gabriel wollte Europas Rolle in der neuen Weltordnun­g neu definieren – und darf es wohl künftig nicht mehr. Fischer will es auch – und kann es nicht mehr. Wie viel Kraft die neue Regierung Merkel aufbringt und wer dann ins Auswärtige Amt einzieht: Sicherlich wird das auch in China mit größter Aufmerksam­keit verfolgt. Und zwar aus einer Perspektiv­e der Stärke auf eine Region der perspektiv­ischen Schwäche.

Das autoritäre Modell Chinas wird zum Gegenentwu­rf des liberalen westlichen

Gesellscha­ftssystems

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