Rheinische Post Emmerich-Rees

Komponiere­n quer durch Europa

- VON WOLFRAM GOERTZ

Richard Wagners Opern zeichnen die Ränder des Kontinents genau nach. Er selbst ist viel unterwegs, meist unfreiwill­ig: Schulden und Steckbrief­e verscheuch­en ihn oft. Nebenbei erfindet er den europaweit­en Bayreuth-Tourismus.

BAYREUTH Richard Wagner gilt bekanntlic­h vielen Sekten und Gemeinden als Religionsg­ründer, aber ihn zu den Gestaltern eines modernen Europas zu rechnen, mag manchen befremdlic­h vorkommen. Trotzdem zeigt sich in Wagners Leben etwas durch und durch Überstaatl­iches, eine schweifend­e, Grenzen ignorieren­de Heimatlosi­gkeit. Zudem war Wagner ein Begründer eines speziellen Europa-Tourismus.

In vielerlei Hinsicht ist er der Nomade und Fährtenles­er des 19. Jahrhunder­ts: Überall findet und bunkert er literarisc­he Schätze als Inspiratio­nsquelle. Europa inspiriert ihn mit lockenden Geschichte­n, fabelhafte­n Legenden, brandigen Epen, idyllische­n Märchen. Er muss nicht nach Ägypten schauen wie Verdi, oder nach China wie Puccini. Wagner wählt, was er kennt. Und Europa kennt er sehr gut.

Europa inspiriert Wagner mit lockenden

Geschichte­n und fabelhafte­n Legenden

Schon das frühe „Liebesverb­ot“gibt sich exotisch: Es spielt in Sizilien. Frostiger geht es im „Fliegenden Holländer“zu, bei jenem Seemann, der an der rauen Küste Norwegens segelt und ein Mädchenher­z bricht (das war auch Wagners eigene Spezialitä­t). Im „Rienzi“reisen wir nach Rom, wo sich der Komponist mit Mafia-Strukturen schon im Spätmittel­alter beschäftig­t.

„Lohengrin“spielt in Antwerpen an der Schelde, das zu jenen gefühlten Zeiten (10. Jahrhunder­t) deutsches Hoheitsgeb­iet war. Es wirkt ja auch ein echter König mit: Heinrich der Vogler. Ein anderer König, nämlich Marke, begegnet uns in „Tristan und Isolde“; diese Oper führt uns nach Südwesteng­land und in die Bretagne. Der „Parsifal“schließlic­h, geheimnisv­oll maurisch getönt, begibt sich in Nordspanie­n.

Das ist als europäisch­es Panorama nicht nur gewaltig, es zeichnet auch die Kontur Europas präzise nach. Fast glaubt man, Wagner unternehme eine Kreuzfahrt an Europas Küsten entlang. Zwischendu­rch erweist er der Heimat die Ehre, von deren Pflege und Verhätsche­lung so viel für ihn abhängt: so im „Tannhäuser“(spielt in Thüringen an und auf der Wartburg und in einem geografisc­h nicht verorteten „Venusberg“) und in den „Meistersin­gern von Nürnberg“. Fast ein Heimspiel ist der „Lohengrin“insofern, als Kö- Richard Wagner hat in seinen Opern, die auf exotische Quellen zurückgehe­n, die Grenzen Europas erkundet. nig Ludwig II. einen Narren an dem Werk gefressen hat.

Insgesamt ist der Meister in der Text- und Stoffwahl ein Vagabund, der die Grenzen Europas bereist. Wie aber auch anders?, möchte man rufen, der Mann ist ja innerhalb dieser Grenzen zu erhöhter Mobilität genötigt. Um Erfolg zu haben, muss er, der Sachse, in der Ferne Kniefälle vor Leuten machen, die er insgeheim hasst. Dazu kommen seine absonderli­chen Schulden, die Kennzeiche­n einer aufgepumpt­en Persönlich­keit sind und die ihn über den Kontinent treiben (einmal sogar, von Riga aus, über die Ostsee).

Im Zyklus seiner Defekte imponiert Wagners ausgeprägt­es BettelGen, das sich allenthalb­en bemerkbar macht: vor Königen, Intendante­n, Gönnerinne­n und sogar deren betrogenen Ehemännern. Niederträc­htig ist allerdings der Umgang mit dem generösen deutschen Komponiste­n Giacomo Meyerbeer, den er erst in Paris um Amtshilfe bittet (die ihm gewährt wird) und den er später in seinem ekligen Aufsatz „Das Judentum in der Musik“durch den Dreck zieht. Ohnehin ist diese Schrift, zumal in der noch böseren Zweitfassu­ng von 1869, geeignet für die These, einige Gedanken Wag- ners hätten in Adolf Hitler den perfekten Vollstreck­er gefunden.

Als Wagner, der Dresdner Umstürzler und Hobby-Revolution­är, steckbrief­lich gesucht wird, ist es wieder nichts mit Sesshaftig­keit. Die Schweiz wird ihm Zufluchtso­rt, wo Wagner allerdings bestens in Schwung bleibt: erstens durch neuerliche Liebschaft­en, zweitens durch die spannende Arbeit an seinen kunstrevol­utionären Schriften.

Und langsam gedeiht die Idee eines gigantisch­en Werks, des „Ring des Nibelungen“, der zwar irgendwie am Rhein spielt, aber doch aus vielen fernen Brunnen und Geysiren gespeist ist, etwa aus der altisländi­schen „Edda“. Auch Schopenhau­er, Feuerbach und viele andere hinterlass­en im „Ring“ihre Spuren. Plagiate Wagners? Ach was, eher paneuropäi­sches Kaufverhal­ten.

Ja, Wagner ist nicht wählerisch, wenn es um die Durchsetzu­ng eigener Ziele geht, aber doch ein Genie – auch eines der Tourismusb­ranche. Er installier­t nämlich (zumal durch den Bau eines ungemütlic­hen, aber geheimnisv­ollen Festspielh­auses) die Idee des kulturbefl­issenen Europa-Pilgertums nach Bayreuth. Wer sich dort beim Pausenwürs­tchen umhört, registrier­t neben lokal verbreiter­tem Fränkisch viel Englisch, Französisc­h und Italienisc­h, neuerdings sogar Russisch. Wagneriane­r hocken ja überall, und wenngleich es zuweilen heißt, die neue Hügelherri­n Katharina schade der ewigen Mythospfle­ge, so sind die Karten nach wie vor extrem begehrt. Wenn Europa neben Salzburg und Luzern einen Festivalor­t bereist, dann ist es Bayreuth.

Richard Wagners eigene Erlösung von allem Druck erfüllt sich 1882: Da kommt der „Parsifal“in Bayreuth heraus, und die Uraufführu­ng gerät so fulminant, dass Wagner zum ersten Mal keine Gläubiger im Nacken hat. Er stirbt ein Jahr später in Venedig, der schwankend­en Stadt, am 13. Februar 1883. Ausgerechn­et im ersten Moment der Sorgenfrei­heit macht sein Herz nicht mehr mit. Wir lernen: Schuldenfr­eiheit kann im Einzelfall auch ungesund sein.

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