Das Haus der 20.000 Bücher
Neben der Arbeit gab es nichts zu tun, und die Geschäfte waren so leer, dass er nicht einmal ein Geschenk für Mimi finden konnte. Chimen war erschüttert angesichts der riesigen Thora-Sammlung und erzählte, dass in manchen Rollen Zettel mit Hilferufen steckten wie „Bitte Gott, hilf uns in diesen schwierigen Zeiten“. Dann begann er gemeinsam mit Estorick, einem vermögenden Geschäftsmann namens Ralph Yablon und dem liberalen Rabbi Harold Reinhart, dem Gründer der Westminster Synagogue, über den Ankauf der gesamten Sammlung zu verhandeln. Ende 1963 finden sich in seinem Tagebuch ein paar diesbezügliche rätselhafte Anmerkungen: „17 Uhr Rabbi Reinhart“, heißt es zum Beispiel in einem solchen Vermerk vom 10. Dezember, dem ersten Abend des Chanukka-Festes. Das ist alles. Keine Details. Das Projekt wird mit keinem Wort erwähnt.
Dieses Erlebnis verfolgte ihn. „Das mit dieser Arbeit verbundene Leid spürt Chimen Abramsky bis zum heutigen Tag“, schrieb Philippa Bernard in ihrem 2005 veröffentlichten Buch Out of the Midst of Fire. „Manche der Thoras waren verbrannt, als man die Synagogen in Brand gesteckt hatte, und er erinnerte sich, dass nach rabbinischer Überlieferung die Worte zum Himmel aufsteigen, wenn eine Thora in Flammen steht. Einige waren blutbefleckt, und da vielen die Bänder fehlten, welche die beiden Rollen zusammenhielten, waren sie mit tallissim [Gebetschals] oder, in einem Fall, sogar mit dem Gürtel eines Kinderregenmantels zusammengeschnürt. Zwei wurden von Teilen eines Korsetts gehalten. Das menschliche Elend, das sich in jener tragischen Sammlung versinnbildlichte, löste eine schmerzliche Erinnerung an das aus, was die Juden heimgesucht hatte.“Als die Schriftrollen im Februar 1964 mit einer Lastwagenflotte im frostkalten London eintrafen, war Chimen bereits seit sechs Jahren glühender Antikommunist. Er stand in der Menge und weinte: über die Schrecken des Holocaust und über die Vernachlässigung aus schierer Gefühllosigkeit, denen die Schriftrollen, diese außerordentlichen Mahnzeichen, in den Folgejahrzehnten unter kommunistischer Herrschaft ausgesetzt gewesen waren.
Wenn ich meine Kindheitserinnerungen nach den Büchern im Wohnzimmer durchstöbere, scheint mir, dass die Texte über den Holocaust auch ein Anhaltspunkt dafür sind, weshalb Chimen in den Kriegsjahren und unmittelbar danach einen so unbeirrbar prosowjetischen Standpunkt vertrat. Denn trotz ihrer zahlreichen Verbrechen vor und während des Zweiten Weltkriegs verfolgte die Sowjetregierung keinen konsequent antisemitischen Kurs: In den 1920er und 1930er Jahren war die Inhaftierung von missionarisch tätigen Juden wie Yehezkel antireligiös motiviert gewesen und nicht an sich antisemitisch. Die Sowjets prangerten weder alle Juden als Feinde an noch verkündeten sie – im Gegensatz zu den Nationalsozialisten –, dass die jüdische Rasse als Ganzes von Natur aus fremdartig sei und außerhalb der Gesellschaft stehe. Die pauschale Ablehnung der Juden fand erst in der Nachkriegszeit Eingang in Stalins Kalkül, als der Widerstand gegen den Staat Israel (den Moskau anfänglich begrüßt hatte, da es das zerbröckelnde britische Empire nur zu gern aufs Korn nahm) in eine eindeutig antijüdi- sche Rhetorik umschlug, gefolgt von einer Reihe mörderischer Maßnahmen gegen die jüdische Intelligenzija in der Sowjetunion.
Während des Krieges trug die britische Kommunistische Partei umfangreiches Beweismaterial über den sich ausweitenden Holocaust zusammen, wobei Chimens Jewish Affairs Committee eine entscheidende Rolle spielte; es stützte sich auf die Aussagen der wenigen, die es geschafft hatten, aus den Todeslagern zu entkommen und sich Partisanen in den umliegenden Wäldern anzuschließen, und fasste Informationen über die Massenerschießungen und die Gaskammern zusammen. Bereits im Juni 1942 hatte das Komitee mit Hilfe des Polnischen Nationalrats Material über die noch nicht ausgefeilte Vernichtungskampagne gesammelt, die im Sommer 1941 in dem noch als Ost-Galizien bekannten Gebiet begonnen hatte, über fahrbare Gaskammern in LkwAnhängern in Chelmno, über die Erschießungen durch die SS-Einsatzgruppen sowie über das systematische Gemetzel innerhalb der Todeslager.
Die britischen Kommunisten halfen, einige der ersten öffentlichen Veranstaltungen zu organisieren, auf denen man über die beispiellosen Massaker diskutierte und sie verurteilte. Und es ging zumindest teilweise auf ihr Engagement zurück, dass britische Parlamentarier, darunter Außenminister Anthony Eden, schon Jahre vor der Niederlage des Nationalsozialismus darüber sprachen, die Urheber des Holocaust als Kriegsverbrecher anzuklagen. Im Sommer 1942 hatten die britische Labour Party und der Gewerkschaftskongress Resolutionen verabschiedet, in denen diese noch nie da gewesenen Schreckenstaten gebrandmarkt wurden. Die Kommunistische Partei veröffentlichte Dokumente über die Vernichtung des osteuropäischen Judentums. Und auf einer riesigen Versammlung, die am 2. September 1942 in der Caxton Hall in London stattfand, trafen sich Vertreter der Exilregierungen aus den Ländern des besetzten Europas, sowie Mitglieder sozialistischer Gruppierungen aus der ganzen Welt, um ihre Stimme gegen die Morde zu erheben und auf die alliierten Regierungen einzuwirken, damit sie die deutsche Führung nach dem Krieg wegen ihrer Verbrechen zur Rechenschaft zogen. Das Dossier über den sich ausweitenden Völkermord, das Chimen und andere Mitglieder der Kommunistischen Partei zusammengestellt hatten, wird nun, längst in Vergessenheit geraten, in einem Aktenschrank des People’s History Museum in Manchester verwahrt.
Nachdem Hitler 1941 seine mächtigen Heere gegen die Sowjetunion ins Feld geschickt hatte, verband sich der Kampf gegen ihn mit dem Bemühen, Stalins Sowjetunion zu schützen. Wenn diese dem deutschen Ansturm widerstehen konnte, war Hitlers Reich letzten Endes dem Untergang geweiht. 1941, als Chimen der Kommunistischen Partei Großbritanniens offiziell beitrat, verdreifachte sich deren Mitgliederzahl beinahe und erreichte den Höhepunkt von knapp 60.000 Personen. In einigen als „Klein-Moskau“bezeichneten Enklaven – in den Bergbaugemeinden von Fife in Schottland sowie in Südwales und in Chimens und Mimis Ost-Londoner Stadtteil Stepney – beherrschte die Partei zeitweilig die politische Bühne.
(Fortsetzung folgt)