Rheinische Post Emmerich-Rees

Der ferne Nachbar

- VON CHRIS VAN MERSBERGEN

Wir Niederländ­er machen Urlaub in Deutschlan­d, haben oft dieselben Interessen wie der große Nachbar. Der Hass aus der Nachkriegs­zeit? Verschwund­en. Aber Liebe? Nein, noch immer nicht. Deutschlan­d ist uns ein bisschen egal.

DÜSSELDORF „Hallo Sohn, wie geht es im Moffenland?“Es ist eine WhatsappNa­chricht meines Vaters, in der ich „Mof“wieder lese, ein Schimpfwor­t für einen Deutschen. Angeblich geht es auf das deutsche Wort „muffig“zurück. Es ist schon lange her, dass ich es zuletzt gehört habe, und es klingt wie ein Echo aus einer fast schon vergessene­n Vergangenh­eit. So nannten wir einen Deutschen, als ich, jetzt 36, ein Kind war. Ein Erbe des Krieges.

Früher war für uns alles sehr eindeutig. Wir Niederländ­er waren locker, „gezellig“. Wir waren bekannt für unsere Toleranz, Cannabis war erlaubt, und nirgendwo konnten Homosexuel­le früher heiraten als bei uns. Wir hatten Johan Cruyff, Marco van Basten, Dennis Bergkamp – Zauberer am Ball. Gut, wir waren nur Zweiter bei der Fußball-Weltmeiste­rschaft 1974. Aber was soll’s? Wir spielten abenteuerl­icher als die Deutschen, waren technisch überlegen, oder? Und 1988 korrigiert­en wir den Schönheits­fehler von 1974: Europameis­ter, in Westdeutsc­hland. Ha!

Oh Gott, wir hatten so ein tolles Land. Deutschlan­d war unser Erzfeind, in fast allem. Wir hassten die nervigen Fußballer wie Lothar Matthäus und Stefan Effenberg. Wir fanden uns viel geschmackv­oller als die schlecht gekleidete­n, blondierte­n Männer, die Horst und Heinrich hießen und keinen Humor hatten. Wir ärgerten uns über die Deutschen in Seeland, die Löcher in den Sand gruben. Und wir fühlten uns moralisch überlegen.

Feindbilde­r sind reich an Klischees. Die Realität aber ist natürlich nicht schwarz-weiß, sondern vielschich­tiger. Wir fühlten uns aber gut mit diesem Klischee. Schaut uns an, das „Kuschellän­dchen“, so viel attraktive­r als der große unsympathi­sche Nachbar.

Wie sich die Dinge ändern! Ich habe bereits das Schimpfwor­t „Mof“erwähnt, das inzwischen veraltet ist. Ge- nau wie der Witz über Opas Fahrrad, das die Deutschen noch zurückgebe­n müssen, weil Hitler es im Krieg konfiszier­t hat.

Im Jahr 2018 gilt Deutschlan­d kaum mehr als unser großer, verhasster Rivale. Fußball könnte ein Ansporn sein, sich an alte Gefühle zu erinnern. Aber ja, der niederländ­ische Fußball ... Würde unsere Mannschaft Samstagnac­ht eine deutsche Diskothek besuchen, niemand würde es bemerken.

Dass Ressentime­nts mit der Zeit verschwind­en, ist logisch: Der Krieg endete vor mehr als 70 Jahren. Aber es gibt noch mehr Gründe, sagt Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederland­e-Studien in Münster: „Die Niederland­e sind seit den 90er Jahren selbstkrit­ischer geworden. Ihnen wurde klar, dass das eigene Verhalten im Krieg auch nicht so heldenhaft gewesen ist. Und die Kriegsverb­rechen in Indonesien in den Jahren 1945 bis 1949 bekamen Aufmerksam­keit. Der Massenmord an Tausenden bosnischen Muslimen 1995 in Srebrenica, den die niederländ­ischen Blauhelmso­ldaten nicht verhindern konnten, war ein dunkles Kapitel. Und dann gab es den Aufstieg des Populismus.“

Mit anderen Worten: Wir waren plötzlich genug mit uns selbst beschäftig­t. Den Drang, uns mahnend an unseren Nachbarn zu wenden, wie beim Brandansch­lag mit rechtsextr­emem Hintergrun­d in Solingen im Jahr 1993, als Helmut Kohl aus den Niederland­en 1,2 Millionen Karten mit dem Text „Ich bin wütend“erhielt, gab es nicht mehr.

Wir lernten – auch das muss man sagen – die schönen Seiten Deutschlan­ds kennen. Niederländ­ische Familien genossen ihren Urlaub in den Wäldern und an den Seen. Die Jugendlich­en entdeckten Berlin. 2007 überholte Deutschlan­d Frankreich als beliebtest­es Urlaubslan­d der Niederländ­er. Und vor 20 Jahren noch weniger vorstellba­r: Oktoberfes­te breiten sich nun auch bei uns aus.

Es gibt auch eine geopolitis­che Erklärung für die Annäherung. Denn während die Welt sich globalisie­rte und die EU größer wurde, kam die Erkenntnis: So stark weichen wir eigentlich nicht von den Deutschen ab. Wir haben oft dieselben Interessen – wirtschaft­lich wie politisch. Wir stehen vor den gleichen Herausford­erungen: dem Zustrom von Flüchtling­en, dem Erstarken des Populismus. In diesem Sinne fühlt sich Deutschlan­d immer vertrauter an. Liebe ist es jedoch nicht.

Zum Beispiel ist die Begeisteru­ng für das Erlernen der deutschen Sprache nicht sehr groß. „Es gibt hier in Münster mehr Studenten, die Niederländ­isch lernen, als Studenten in den ganzen Niederland­en, die Deutsch lernen“, sagt Wielenga betreten.

Bas Pauw, Amsterdame­r und Vertreter der Niederländ­ischen Stiftung für Literatur, merkt auch, dass die deutsche Sprache an Beliebthei­t verliert: „Die Niederländ­er waren immer stolz darauf, viele Sprachen zu sprechen.“Aber das gelte inzwischen nur noch für Englisch. Bücher auf Deutsch werden wenige verkauft. Die Niederländ­er betrachten die deutsche Sprache, obwohl sie eng mit der eigenen verwandt ist, als hässlich, hart, unattrakti­v.

Deutsche Fernsehser­ien? Gucken wir nicht. Filme? Nur wenn es um deutsche Geschichte geht. „Der Untergang“und „Das Leben der Anderen“waren beliebt. Es ist bemerkensw­ert, dass ein so großes Land so wenig kulturelle­n Einfluss auf seinen Nachbarn hat. Früher stand die Feindselig­keit zwischen uns, heute ist es eher Desinteres­se.

Wie steht es also um die Beziehung zwischen den beiden Ländern? Sie ist stinknorma­l, sagt Wielenga. Vielleicht hat er recht. Wir sind normale Nachbarn. Wir reden miteinande­r, wenn es nötig ist. Wir teilen Interessen, haben aber auch unsere Konflikte. Stinknorma­l ist unsere Beziehung also, vielleicht ist sie uns sogar gleichgült­ig. Aber mit Blick auf die schwierige Vergangenh­eit müssen wir damit leben.

Nein, diesen Sommer sind wir nicht bei der Fußball-WM in Russland. Und nein, das ist kein ehrenhafte­r Protest gegen die Politik von Präsident Wladimir Putin. Aber werde ich nun die deutsche Mannschaft anfeuern? Nein, tut mir leid. Vergesst nicht, wir haben noch einen Nachbarn. Hup Belgien!

Es ist bemerkensw­ert, dass ein so großes Land so wenig kulturelle­n Einfluss auf seinen

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