Brüssels deutscher Machiavelli
Wenn sein Chef eine Rede hielt, saß er häufig in der ersten Reihe. Der 47-Jährige mit dem dunklen Bürstenhaar nickte dann Jean-Claude Juncker aufmunternd zu, soufflierte dem Kommissionspräsidenten vor allem, wenn es um Zahlen ging. Es war offensichtlich, dass der deutsche Jurist Martin Selmayr für den 63-jährigen Juncker unverzichtbar geworden war. Und damit einer der mächtigsten Männer in Brüssel.
Selmayr leitete bis Ende Februar Junckers Büro, im EU-Jargon war er sein Kabinettschef. Das ist in der Kommission ein einflussreicher Posten. Doch er beschreibt nur unzulänglich den enormen Einfluss, den der gebürtige Bonner Selmayr seit Jahren ausübt. Manche halten ihn für den eigentlichen Strippenzieher der Kommission. Über seinen Tisch gingen alle wichtigen Entscheidungen. Er entschied, wen Juncker empfing, welcher Zeitung er Interviews gab und welche Information aus dem Inneren der Macht in die Öffentlichkeit lanciert wurde.
Selmayr polarisiert, weil er die Brüsseler Welt in Freunde und Fein-
Er gilt als ebenso arrogant wie brillant – am mächtigsten Deutschen im EU-Apparat scheiden sich schon lange die Geister. Jetzt löst seine Beförderung heftigen Streit aus.
de aufteilt, er hat viele Gegner im EU-Apparat. Daher wurde gemutmaßt, dass er nur eine Zukunft außerhalb der Kommission haben würde, wenn Juncker im kommenden Jahr sein Amt niederlegt. Dann aber machte ihn sein Chef im Hauruckverfahren zum Generalsekretär der Kommission – die wichtigste Position im EU-Beamtenapparat. Am 1. März trat Selmayr seinen Posten an, aber der Streit über seine Beförderung will einfach nicht abreißen.
Zwar wird Selmayr geachtet wegen seines steilen Aufstiegs, seines kompromisslosen Eintretens für die europäische Sache, aber er wird auch gefürchtet wegen seines Alphatier-Gehabes. Geliebt wird er von den wenigsten. Er gilt als kalter Machiavelli von Brüssel. Seine Gegner raunen, Selmayr habe sich seine Zukunftsverwendung selbst ausgesucht und bei Juncker durchgedrückt. Es ist sogar von einem Coup die Rede: Die Personalie sei erst in letzter Minute auf die Agenda der Sitzung der Kommissare gesetzt worden, damit die Gegner ja keine Chance mehr haben sollten, Widerstand zu leisten.
EU-Kommissar Günther Oettinger, der für das EU-Personal zuständig ist, trat schon am Tag der umstrittenen Beförderung vehement der Behauptung entgegen, mit Selmayr werde der Einfluss der Bundesregierung in Brüssel ausgeweitet: „Selmayr ist zwar ein Deutscher, aber mit Sicherheit kein Undercover-Agent der deutschen Politik.“Markus Grabitz