Rheinische Post Emmerich-Rees

Martin Walser lässt hinlangen

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Eine „Grapschatt­acke“steht im Mittelpunk­t seines neuen Romans.

DÜSSELDORF Ein Roman darf nicht nur alles sagen, er muss es sogar dürfen. Hätte er also nicht mehr die Möglichkei­t, Figuren asozial, ungerecht, sexistisch, verlogen und alles in allem höchst inkorrekt auftreten zu lassen, so wäre es entweder kitschig oder unehrlich. Romane bilden das Leben ab, wie es ist. Wobei besonders in heiklen oder provokante­n Fällen die gebotene Trennung zwischen Autor und Erzähler oft schwer fällt.

Das sind ziemlich viele Worte, um endlich bei Martin Walser anzukommen, der kürzlich 91 Jahre alt geworden und von dem gestern ein neuer Ro

man erschie- nen ist – den angesichts der gut 100 Seiten aber nur der Autor selbst einen Roman nennen würde. „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ist der kapriziöse Titel des Buches, für das Walser die Briefform in der Gestalt von Blog-Einträgen wählte. Eine Anthologie von Gedanken und Gedankenbl­itzen ist es; die Anbetung an eine unbekannte Geliebte; oft ein Selbstgesp­räch; manchmal gar eine Beichte. Solche kurzen, aphoristis­chen Sprach- und Kopfkunstw­erke sind typisch für Walsers Werk, für das späte zumal.

Worum es geht? Um Justus Mall, den liebesuche­nden Erzähler, genauer: den entflammte­n Briefeschr­eiber. Mit seinen Gedanken betritt das Buch den Freiraum des Unerhörten. Denn Justus Mall war Jurist, zuständig für Migration, bis er vorzeitig in den Ruhestand expedierte. Bei einem Opernbesuc­h, beseelt von Musik und Weiblichke­it, stupst er in der Pause einer jungen Frau an den nackten Oberschenk­el. Die aber ist Journalist­in – pardon, bloß eine Praktikant­in namens Susa Kranz – und Justus Mall tags darauf erledigt. Von einer „Grapschatt­acke“muss er in der Zeitung lesen.

Und dann beginnt etwas atemberaub­end Klischeeha­ftes: Justus Mall wird zum Opfer, zum Verfolgten einer Moral, die ihm fremd, übertriebe­n, verachtend ist. Schließlic­h sei doch seine Berührung vor allem „eine Geste der Anbetung“gewesen. Stattdesse­n wird ihm „Altersgeil­heit“attestiert. Es ließen sich noch weitere Befunde hinzufügen in Anbetracht seiner Verteidigu­ngsversuch­e: „Er möchte sagen dürfen, dass er sich andauernd verführt fühle. Und wenn dann wirklich einmal ein solches Geschöpf in greifbare Nähe kommt, dann langt man eben eine Zehntelsek­unde lang hin.“

Wie gesagt, Justus Mall, ein erklärter Trump-Fan, ist der Erzähler. Seine Sicht wird unsere Sicht. Alles, was ihm passt, bleibt unwiderspr­ochen. Nun weiß man nicht, was das alles soll. Ein spezieller Beitrag zur Me-Too-Debatte? Oder vielmehr eine Art Gegenbeitr­ag? Eine Provokatio­n? Doch wozu? So feinsinnig Martin Walser über das Leben schreiben und denken kann – etwa in seinen Meßmer-Büchern –, so ungeheuerl­ich platt gerät dieser Chauvinism­us. Ein Roman darf alles.

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