Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Es sollte noch mehrere Jahre dauern, bis Chimen bereit war, sich der schrecklic­hen Wahrheit zu stellen, dass der Antisemiti­smus in der Sowjetunio­n blühte und gedieh – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass das System nicht das Geringste mit einem Leuchtfeue­r der Freiheit und Demokratie gemein hatte. Daraufhin wandte er sich ernüchtert dem Zionismus zu. Wenn Russland keine Zuflucht bot, dann musste sie anderswo zu finden sein. Es musste ein Land geben, das – wie der frühzionis­tische Theoretike­r Achad Ha’am Ende des 19. Jahrhunder­ts mit einer biblischen Wendung erklärt hatte – als Eretz Israel dienen könne; oder, wie Chimen 1976 in einem Vortrag ausführte, einen Ort, wo „der jüdische Geist“gedeihen könne, einen Fleck auf Erden, an dem es möglich sei, „die moralische­n, schöpferis­chen Kräfte des jüdischen Volkes [zu pflegen], die in der Diaspora brutal unterdrück­t wurden und werden“.

Wenn der Kommunismu­s grausame Gedanken und furchtbare Taten nicht verhindern konnte, mussten andere Ideologien gefunden werden, die dazu in der Lage waren. Chimens Umdenken vollzog sich wohl großenteil­s, während er sich in Bücher von den Regalen im Wohnzimmer vertiefte oder hier mit Genossen beim Tee über sein Anliegen sprach. In späteren Jahren machte er lange Abendspazi­ergänge durch Oxford mit seiner Vertrauten Beryl Williams – damals eine junge Geschichts­dozentin an der University of Sussex – und mit anderen, wobei er darlegte, wie schuldig er sich fühle, so lange in der Partei verharrt zu haben. Williams vertraute er an, er sei dadurch um den Schlaf gebracht worden. In Gesprächen mit osteuropäi­schen Intellektu­ellen – von denen viele ihr Exil in Sussex und an ein paar anderen britischen Universitä­ten ableistete­n – machte er sich Vorwürfe, weil er Stalins Aussage „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“für plausibel gehalten habe. „Er betrachtet­e die Revolution als etwas, das schiefgega­ngen war, nicht als etwas, das nicht hätte geschehen sollen“, schloss Williams. „Er wurde zum Gegner der Sowjetunio­n, aber er blieb dem Sozialismu­s in gewisser Weise immer verbunden.“

Als Teenager beteiligte ich mich in London an der pazifistis­chen AntiAtomkr­aft-Bewegung und an anderen linken Aktivitäte­n, woraufhin Chimen – immer noch vollauf beschäftig­t mit seiner kommunisti­schen Vergangenh­eit und beschämt über den Unsinn, den er als junger Mann geschriebe­n hatte – mir Vorträge über meine jugendlich­en Torheiten hielt. Das machte mich wütend, denn mir schien, dass seine Empörung einen Mangel an Leidenscha­ft, eine Verkalkung seiner politische­n Adern widerspieg­ele. Heute, da ich als Mann in mittleren Jahren am Computer sitze und versuche, die Bestandtei­le des Lebens meiner Großeltern zu einer stimmigen Erzählung zusammenzu­fügen, glaube ich zu verstehen, weshalb er so misstrauis­ch auf den in seinen Augen naiven Idealismus der Jugend reagierte. Da sie die Welt verbessern wollten und sich aus ganzer Seele um die Menschheit sorgten, hatten Chimen, Mimi und so viele andere, die sie liebten und schätzten, Jahre damit verbracht, ein brutales und totalitäre­s System zu verteidige­n. Dies war, denke ich, Chimens demütigend­ste Erkenntnis.

In einem Archiv der University of Sheffield sehe ich Mikrofilme durch, die Artikel aus zehn Jahren des Jewish Clarion enthalten, darunter Beiträge etlicher von Chimens engsten Freunden aus der Nachkriegs­zeit: Izador Pushkin, Alec Waterman, Hyman Levy, Andrew Rothstein, Sam Alexander, Lazar Zaidman, Jack Gaster. Im Laufe der Jahre schrieb Chimen unter einer Reihe von Namen Dutzende von Artikeln für diese Zeitung. Manchmal verwendete er fadenschei­nige Pseudonyme: C. Chimen war das erste, dann folgte A. Chimen. Hin und wieder nannte er sich C. A. Seltener benutzte er seinen echten Namen, hauptsächl­ich wenn er einen harmlosen historisch­en Essay oder eine Buchbespre­chung veröffentl­ichte. Doch für seine extrem propagandi­stischen Beiträge bediente sich der Sohn von Yehezkel Abramsky, dem im Exil lebenden rabbinisch­en Gelehrten und Oberhaupt des Londoner Beth Din, des Pseudonyms C. Allen.

Im Sommer nach meinem Schulabsch­luss musste ich Geld verdienen, um eine Eisenbahnr­eise durch Europa zu finanziere­n. Mehrere Wochen lang jobbte ich in einem Feinkostge­schäft, im Londoner Zoo, wo ich Tische reinigte, und sogar in Schulen, wo ich Toiletten putzte. Dann erbarmte Chimen sich meiner und heuerte mich für ein paar Wochen an, damit ich versuchte, Ordnung in dem Chaos seines Arbeitszim­mers zu schaffen. Wir verbrachte­n diese Wochen gemeinsam in dem winzigen Raum, wühlten uns durch Papierhauf­en hindurch, sortierten Briefe und legten Artikel in chronologi­scher Folge ab. Chimen, der bekannterm­aßen nie ein geschriebe­nes Wort wegwarf, fand Stapel seiner alten Artikel für die Kommunisti­sche Partei. Gegen meinen Einspruch machte er eine Ausnahme von seiner Regel: Eines der Papiere nach dem anderen wanderte in einen großen schwarzen Müllsack. Als der Sack voll war, verschloss Chimen ihn mit einem Doppelknot­en, als wolle er Giftmüll versiegeln, und steckte den Sack dann in die Mülltonne vor dem Haus. Damals war ich entgeister­t. Welch ein Vandalismu­s; welch rücksichts­lose Missachtun­g der Vergangenh­eit! Inzwischen habe ich die Artikel gelesen und begreife sein Entsetzen. Die Texte waren grässlich. Geschwätz. Schlimmste Propaganda. Es lässt sich einfach nicht anders ausdrücken. Hätte ich Chimen zu der Zeit gekannt, als er sie schrieb, wäre es mir wahrschein­lich schwergefa­llen, freundscha­ftlich mit ihm umzugehen. Chimen wird es sicher ähnlich gegangen sein. Für ihn waren C. Allen, A. Chimen und die anderen junge Irre, mit denen er nichts mehr zu tun haben wollte.

Im Juli 1952 schrieb ein gewisser „C. A.“eine Rezension des Bandes The Jews of Russia, welcher den im Wandel begriffene­n Lebensverh­ältnissen der russischen Juden vor und nach der Revolution nachspürte. „Erst die Revolution von 1917 setzte der Verfolgung der Juden ein Ende“, behauptete der Mann, dessen Vater zwei Jahrzehnte zuvor knapp der Hinrichtun­g entgangen und wegen seiner religiösen Tätigkeit nach Sibirien geschickt worden war und dessen Familie man aus der Sowjetunio­n ausgewiese­n hatte. „Damit endete die Notwendigk­eit, das Land zu verlassen. Die Juden wurden in jedem Sinne des Wortes gleichbere­chtigt.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany