Kriegserinnerungen vor der Haustür
Bei einer historischen Radtour zeigt Volker Gerwers vom Bochumer Geschichtsverein eine lokale Ansicht der Kriegsereignisse. Anlass war der 73. Jahrestag einer der größten Luftlandeoperation, der „Operation Varsity“.
REES (jmw) Wer genügend Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg gesehen hat, der weiß, wie desaströs die großen Schlachten waren – und hat Berlin in Trümmern vor Augen. Unter der Leitung von Volker Gerwers konnte bei einer historischen Radtour allerdings eine neue, lokale Ansicht der schrecklichen Kriegsereignisse gewonnen werden, wie sie genau hier vor Ort geschahen. Gerwers, der mit seinem Bochumer Geschichtsverein immer wieder Führungen und Exkursionen im Ruhrgebietsraum anbietet, führte die kleine Gruppe von Hobbyhistorikern und Geschichtsinteressierten für eine ungewohnt unmittelbare Einsicht von Bienen über Hamminkeln nach Rees.
Anlass für die Tour war der 73. Jahrestag der „Operation Varsity“. Damals, das heißt, am 23. März 1945, begann mit 21.000 Soldaten eine der größten Luftlandeoperationen des Zweiten Weltkriegs. Bienen wurde für die Tour ausgewählt, da „hier die Hinterlassenschaften des Krieges sichtbar sind wie in nur noch sehr wenigen Städten in Deutschland“erklärte Volker Gerwers. Ein Zeitzeuge der Ereignisse um die Landung der Alliierten am Niederrhein hatte sich mit Gerwers abgesprochen und sein Haus als ersten Stopp angeboten. „So, wie wir jetzt hier sitzen, hätten wir da nicht sitzen können“. Das Wohnzimmer sei wegen der Kämpfe, die vom 23. bis zum 25. März dauerten, damals wie heute das Wochenende um Palmsonntag, viel zu gefährlich gewesen, erzählte er.
Nun beantwortete er dort der Gruppe die verschiedensten Fragen und gab Einblicke in seine Nachforschungen. Um die Erlebnisse zu verarbeiten, hatte Becker nämlich angefangen, Informationen zu sammeln, Gedenksteine und -tafeln zu erstellen und Kontakt zu den damals beteiligten Soldaten aus zum Beispiel Kanada und Schottland aufzubauen. Weitere Motivation sei die Dankbarkeit für die Befreiung durch diese Soldaten, die ihrerseits eine schrecklich große Zahl von über 200 Kameraden verloren hatten. Diese Dankbarkeit teile er mit vielen der damaligen Dorfbewohner.
Zuerst in Groin und später in Bienen selbst waren zu der Zeit Zwangsarbeiterlager eingerichtet worden. Der Zustand dort war schrecklich, bei harter Arbeit wurde den Arbeitern so wenig zu Essen gegeben, dass viele verhungerten. Dies wurde von der Bevölkerung Bienens wahrgenommen. Versuche, den Arbeitern zu helfen, seien aber stets von den Aufsehern unterbunden worden. Alleine deshalb war Rückhalt für die Nationalsozialisten unter den Einwohnern quasi nicht vorhanden, dafür die Dankbarkeit für die Befreier umso größer.
Nach dem Aufenthalt bei Josef Becker ging es weiter zu Stationen, an denen die Kriegsfolgen immer noch sichtbar sind – zuerst zu einer Betonmauer in der Nähe der Bienener Kirche. Diese gehörte einst zu dem größten Bauernhof der Region, erklärte Becker, der spontan mitgefahren war. Heute noch sichtbar sind die Einschusslöcher in der Mauer, die damals im Rahmen der Befreiung verursacht worden waren. Im Angesicht dieser heute noch erfahrbaren Folgen eines für die allermeisten heute Lebenden recht weit entfernten Krieges wurde plötzlich bewusst, wie nah der Krieg war und noch sein kann. Josef Becker fasste dieses Gefühl zusammen: „Es sind so viele gestorben in den Lagern, hunderte Soldaten in nur drei Tagen gefallen und es gibt heute nur so wenige, die daran noch denken.“
Bei der anschließenden Besichtigung der Kirche und der an einer Mauer davor montierten Gedenktafeln teilte Josef Becker erneut seine Erinnerungen an die Zerstörung der Stätte mit.
Nach einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bienen entsandte Becker die Gruppe auf den weiteren Weg nach Rees, wo weitere Schauplätze und Denkmäler angesehen wurden. Er gab ihnen vorher allerdings noch eine Geschichte mit auf den Weg, die stellvertretend für den Irrsinn des Krieges und als Mahnmal stehen kann.
Ein junger deutscher Soldat war in Bienen stationiert und schrieb oft Briefe an seine Schwester. Voller Hoffnung notierte er noch am 23. März 1945, dass der Krieg „in drei Tagen“durch das Einfallen der Alliierten endlich beendet sein werde und wie sehr er sich freue, seine „liebe Schwester“endlich wiederzusehen. Am dritten Tag, der später tatsächlich das Ende der Kämpfe in Bienen markieren würde, wurde der sich nach Frieden sehnende junge Mensch erschossen – von Menschen mit ein und demselben Ziel, ebenfalls Frieden zu schaffen. Er durfte seine Schwester nie mehr wiedersehen.