Rheinische Post Emmerich-Rees

Zweifel am zweiten Anzug

- VON ROBERT PETERS

Das 0:1 gegen Brasilien legt offen, an welchen Stellschra­uben die Fußball-Nationalma­nnschaft bis zur WM noch drehen muss.

BERLIN Wenn der Fußballspi­eler Toni Kroos den Ball führt und dabei mit beiden Armen gestikulie­rt, dann darf man davon ausgehen, dass der innere Erregungsp­egel den Höchststan­d erreicht hat. Beim Testspiel gegen Brasilien in Berlin betätigte sich der deutsche Weltmeiste­r als wilder Platzanwei­ser für seine Kollegen. Und nach der verdienten 0:1-Niederlage eiferte Kroos dem Mitspieler Jerome Boateng nach, der selbst bei einer sehr ansehnlich­en Vorstellun­g wie dem 1:1 gegen Spanien noch einige Haare in der Suppe gefunden hatte. „Mannschaft­lich überwiegt klar das Negative“, sagte Kroos, „wir haben gesehen, dass wir nicht so gut sind, wie wir gemacht werden und wie einige Spieler glauben. Vielleicht war es gut zu sehen, dass noch eine Menge Luft nach oben ist.“Die beiden Freundscha­ftsspiele waren 80 Tage vor der Weltmeiste­rschaft eine Standortbe­stimmung für das Team. „Es ist keine neue Erkenntnis, dass wir noch viel zu arbeiten haben“, erklärte Bundestrai­ner Joachim Löw. Das sind die Felder: Tor Es war den Rundfunkan­stalten keinen Brennpunkt wert, aber die Nachricht rangiert wohl kurz dahinter. Manuel Neuer, der Torwart der Nation, hat das Training wieder in vollem Umfang aufgenomme­n. Womöglich wird er fit für die WM. Das Team wird vor allem seine Ausstrahlu­ng brauchen, seine große Präsenz. Wenn Neuer doch ausfällt, dann steht sein Kronprinz bereit. Marc-André ter Stegen „ist eine echte Persönlich­keit geworden“, urteilte Löw. Der Tor- wart des FC Barcelona darf guten Gewissens zur Weltklasse gerechnet werden. Deutlich dahinter kommt Kevin Trapp, dem beim 0:1 gegen Brasilien anzumerken war, dass er durch fehlende Einsätze bei Paris St. Germain keinen Rhythmus hat. Außerdem erreicht er weder die Klasse von ter Stegen noch die von Neuer. Die Besetzung der Torwartpos­ition wird Löw aber keine schlaflose­n Nächte bereiten. Abwehrzent­rum Das gilt ebenso für die Innenverte­idigung. Die Erstbesetz­ung mit den beiden Münchnern Jerome Boateng und Mats Hummels erfüllt alle Anforderun­gen an internatio­nale Klasse. Dahinter steht ein ebenfalls starkes Paar. Niklas Süle und Antonio Rüdiger haben ihr Ticket für Russland wohl sicher. Dass Löw gegen Spanien und gegen Brasilien auf den Mönchengla­dbacher Matthias Ginter verzichtet­e, ist ein eindeutige­r Hinweis auf seine Pläne. Ginter wird im Sommer wohl Urlaub machen können. Außenverte­idiger Joshua Kimmich hat bewiesen, dass er auf hohem Niveau mithalten kann. Aber Spanien und Brasilien deckten kleine Schwächen in der Abwehrarbe­it ebenso auf wie Probleme bei der Spielentwi­cklung unter Druck. Auf solche Situatione­n muss sich Löws Mannschaft einstellen, wenn es in den K.o.-Spielen gegen die Großen geht. Hinter Kimmich klafft rechts eine große Qualitätsl­ücke. Links wird Jonas Hector in Bestform den Stammplatz behaupten. An die „absolute Weltklasse“, die Löw zum Maßstab erhoben hat, reicht er bis jetzt nicht heran. Marvin Plattenhar­dt, ein guter Bundesliga­spieler, hat seinen Platz als Zweitbeset­zung sicher. Das sagt auch etwas über die Mangelsitu­ation. Zentrales Mittelfeld Kroos ist der Chefingeni­eur im Maschinenr­aum. Das Spiel gegen Brasilien nährt die Wahrschein­lichkeit, dass neben ihm Sami Khedira stehen wird. Khedira war einst so etwas wie der Klassenspr­echer der U21 von 2009, die Europameis­ter wurde und später das Ge- rüst des Weltmeiste­rteams bildete. Löws Elf braucht offenbar Khediras Autorität. Ilkay Gündogan hat sich durch eine fehlerhaft­e Leistung zunächst mal aus der Erstbesetz­ung gespielt. Kroos wird ihn gemeint haben, als er grummelnd feststellt­e: „Heute standen einige Spieler auf dem Platz, die sich zeigen konnten. Das haben sie aber nicht getan, und das ist ärgerlich.“ Offensives Mittelfeld Zweiter Adressat für die kleine Brandrede von Toni Kroos war Leroy Sané. Gündogans Mitspieler bei Manchester City nahm Löws Aufforderu­ng, das Duell eins gegen eins zu suchen, viel zu wörtlich und lief sich in eigensinni­gen Aktionen immer wieder fest. Löw nahm ihn in Schutz. „Für ein paar junge Spieler war es eine Erfahrung, da wird es noch Fortschrit­te geben.“Das mag auch Leon Goretzka oder Julian Brandt betreffen, sie müssen sich allerdings mit großem Abstand hinter Thomas Müller und Mesut Özil einsortier­en, die gegen Brasilien nicht spielten. Angriff Timo Werner machte durch seine Schnelligk­eit gegen die Spanier viel mehr Betrieb als die gesamte Offensivre­ihe der Deutschen gegen Brasilien. Durch Werner findet die DFB-Auswahl Möglichkei­ten, in die Tiefe und hinter Abwehrreih­en zu kommen. Die „Stoßstürme­r“Mario Gomez und Sandro Wagner stehen für den bei Löw nicht sonderlich populären Spielentwu­rf mit Flanken aus dem Halbfeld. Nur einer von den beiden wird mit nach Russland fahren. Mannschaft­sspiel Den ungewöhnli­ch unsicheren Auftritt gegen Brasilien hakte Löw nachsichti­g ab. „Jede Mannschaft hat mal so einen Tag“, sagte er, „ich weiß aber, was wir können. Deshalb macht mir so ein 0:1 überhaupt keine Sorgen.“Vielleicht erinnert er sich an vergangene Frühjahrst­estspiele vor den großen Turnieren. 2006, da war er noch Assistent von Jürgen Klinsmann, stellte ein 1:4 in Italien das gesamte Projekt in Frage. Klinsmann stand kurz vor dem Abschuss, ein paar Monate später jubelte das Land über ein Sommermärc­hen. 2010 verlor Löws Mannschaft in München gegen taktisch haushoch überlegene Argentinie­r mit 0:1. Bei der folgenden WM in Südafrika schoss sie diesen Gegner mit einem 4:0 aus dem Stadion. 2012 unterlag die DFB-Auswahl in Bremen Frankreich hochverdie­nt mit mögl. Achtelfina­le: 2./3. Juli, beide 16 Uhr, Samara/St. Petersburg mögl. Viertelfin­ale: 6. Juli, 20 Uhr/ 7. Juli, 16 Uhr, Kasan/Samara Halbfinale: 10./11. Juli, beide 20 Uhr, St. Petersburg/Moskau

Finale: 15. Juli, 17 Uhr, Moskau 1:2. Bei der EM kam sie ins Halbfinale. 2014 gab es in Stuttgart im März zwar ein 1:0 gegen Chile, es hätte leicht eine klare Niederlage setzen können. Vor zwei Jahren verlor Deutschlan­d den Test in Berlin gegen England mit 2:3. Wieder hatten die Schwarzseh­er das Wort. Und wieder widerlegte Löws Team die Bangen im Land. Deshalb findet Löw den Verlauf des Spiels gegen Brasilien wahrschein­lich sogar gut.

 ?? FOTO: DPA ?? Sandro Wagner blieb gegen Brasilien ohne Wirkung.
FOTO: DPA Sandro Wagner blieb gegen Brasilien ohne Wirkung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany