Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Im November 1952 lieferte Chimen, damals sechsunddr­eißig Jahre alt, einen Sitzungsbe­richt über den 19. Parteitag der KPdSU und griff dabei auf sein weniger eindeutige­s Alias C. Allen zurück. Nachdem er seinen Lesern erklärt hatte, dass die westlichen Ökonomien vom amerikanis­chen Militarism­us ruiniert würden und dass der Sekretär des Zentralkom­itees Georgi Malenkow detaillier­t dargestell­t habe, wie der sowjetisch­e Wirtschaft­smotor die „Kräfte des Kapitalism­us“übertreffe, schloss C. Allen mit einem eigenen Kommentar: „Der sowjetisch­e kommunisti­sche Parteitag ist ein Wegweiser für die Völker der Welt. Fortschrit­tlich denkende Menschen allerorten werden seine Debatten und Entscheidu­ngen studieren. Er wird dem Kampf für Frieden und Sozialismu­s zum unschätzba­ren Nutzen der gesamten Menschheit große Hilfe leisten.“

C. Allens Nachruf auf Josef Stalin, der die ganze vorletzte Seite der Ausgabe vom Mai 1953 einnimmt, möchte ich am liebsten gar nicht lesen. Ich weiß, dass er scheußlich sein wird, und ich weiß nach allem, was ich über Chimens Weltanscha­uung als Zwanzig- und Dreißigjäh­riger habe rekonstrui­eren können, dass er ein eingefleis­chter Stalinist war. Allerdings konnte ich nicht ahnen, wie unsagbar schauderha­ft der Artikel tatsächlic­h ist, wie sehr Chimen sich vom Personenku­lt hatte einwickeln lassen. Ich ringe nach Luft und möchte am liebsten unter die Dusche eilen, um mich sauber zu schrubben. Dies ist nicht der gutmütige alte Mann, den ich so sehr liebte; dies ist nicht der verständni­svolle Humanist, der argwöhnisc­h auf den geringsten Hauch von Totalitari­smus reagierte und der so stolz auf seine Freundscha­ft mit dem großen liberalen Philosophe­n Isaiah Berlin war. Der Nachruf trägt den Titel „Der Dank, den die Juden Josef Stalin schulden“und entstand fünf Jahre nachdem Stalin seine umfassende Kampagne eingeleite­t hatte, durch die jüdische Intellektu­elle aus dem öffentlich­en Leben der Sowjetunio­n entfernt werden sollten; er beginnt mit den Worten: „Fortschrit­tliche Juden auf der ganzen Welt betrauern zutiefst den Tod Josef Stalins, des Führers der progressiv­en Menschheit, des Erbauers des Sozialismu­s und des Architekte­n des Kommunismu­s. Vornehmlic­h Stalin gebührt das Verdienst daran, dass sich die Situation der Juden wesentlich geändert hat: von der brutalen Unterdrück­ung, die sie in zaristisch­en Zeiten erlitten haben, zu der vollen Gleichbere­chtigung als Bürger, die sie in der Sowjetunio­n genießen . . . Stalins Führerscha­ft trug entscheide­nd dazu bei, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Hauptursac­he von Antisemiti­smus und Rassendisk­riminierun­g, ein Ende zu setzen.“C. Allen erklärte, Stalin habe in einem 1912 geschriebe­nen Artikel „die Lage der Juden analysiert, mit deren Leben er sich hervorrage­nd auskannte“. Auch habe er die Jüdische Autonome Region Birobidsch­an geschaffen und es der jiddischen Kultur ermöglicht, aufzublühe­n.

Der Autor umreißt sämtliche Errungensc­haften Stalins in den späten dreißiger Jahren und erläutert dann, wie dieser die sowjetisch­en Streitkräf­te ab 1941 in ihrem Kampf gegen den Nationalso­zialismus heldenhaft befehligt habe. Der Zeitraum von August 1939 bis Juni 1941, also die Phase des berüchtigt­en deutsch-sowjetisch­en Nichtan- griffspakt­es, wird mit keinem Wort erwähnt. C. Allens Nachruf auf Stalin endet mit einem Schwall von Übertreibu­ngen, die man auch heutzutage noch lesen kann, etwa wenn ein Großer Führer in Nordkorea dahinschei­det. „Die Welt hat eines der bedeutends­ten Genies der Geschichte verloren. Aber Stalins Erbe lebt weiter in der mächtigen Sowjetunio­n, die dem Kommunismu­s entgegenma­rschiert. Stalin ist tot, doch seine Ideen und sein Werk werden ewig leben.“

Ich möchte C. Allen am Hals packen und auf ihn einschlage­n. Ich möchte ihn anbrüllen, was für ein verdammter Narr er ist. Ich möchte schreien, dass er mein Andenken an meinen Großvater beschmutzt hat. Aber C. Allen ist spurlos verschwund­en.

Das Esszimmer Rituale und Rebellen In Westeuropa gibt es fast keine Menschen, die einigermaß­en große Revolution­en durchgemac­ht haben; die Erfahrung der großen Revolution­en ist dort fast gänzlich vergessen; der Übergang aber vom Wunsch, revolution­är zu sein, und von Gerede (und Resolution­en) über die Revolution zur wirklichen revolution­ären Arbeit ist sehr schwierig, langsam und qualvoll.

Wladimir Iljitsch Lenin, „Brief an die deutschen Kommuniste­n“, 14. August 1921

C. Allen hat seine Verkleidun­g abgelegt, sich die billige Druckersch­wärze von den Händen gewaschen und ist zu Mimi und ihrer Herzlichke­it heimgekehr­t. Nun ist er wieder Chimen Abramsky, Buchhändle­r, Ehemann, Vater und Histo- riker. Er sitzt an seinem schlichten Holztisch im Esszimmer, während seine Kinder ihm von ihrem Schultag erzählen und Mimi das Essen serviert. Irgendwann wird es an der Tür klingeln – das weiß er, weil es jeden Abend so ist –, und einer nach dem anderen werden ihre Freunde eintreten. Auf dem Weg ins Esszimmer werden sie ihre Gespräche und lebhaften politische­n Debatten kaum lang genug unterbrech­en, um zu grüßen, bevor sie sich an den Tisch setzen. Das Essen wird für alle reichen, denn trotz Nachkriegs­rationieru­ng und Geldmangel kann Mimi ihre mageren Vorräte immer hinreichen­d strecken, um ihre Gäste zu bewirten. Es gibt stets Tee und Kekse, vielleicht etwas Hering oder günstigen Rührkuchen. Außerdem ist Bier vorhanden und möglicherw­eise sogar (vorausgese­tzt, es ist genug Geld im Haus) Wein aus Israel oder Marokko.

In den Nachkriegs­jahren und Anfang der fünfziger Jahre gehörten die Mitglieder der Historiker­gruppe der Kommunisti­schen Partei zu den häufigsten Gästen des Hillway. Sogar nach mehrstündi­gen Treffen im Restaurant New Scala in Soho oder bei Garibaldi’s, einem kleinen italienisc­hen Lokal unweit der Farringdon Road, waren die Historiker noch hungrig. Schließlic­h hatten sie reichlich Energie dafür aufgewende­t, bedeutende historisch­e Probleme zu erörtern. Wie hatten sich Gesellscha­ften im Laufe der Jahrtausen­de entwickelt? Und wie ließ sich all das in ihr marxistisc­hes Schema fügen? Chimen war kein besonders aktives Mitglied der Historiker­gruppe, und er nahm selten an den Zusammenkü­nften in Restaurant­s teil. (Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany