Der Mythos lebt
Alice Schwarzer Joschka
Fischer
EJoseph Beuys s ist eine Chiffre. Ein Symbol. Eine Zäsur im nationalen Selbstverständnis. 1968 ist das Jahr der ideologischen Schlachten, der Proteste, der kleinen und großen Revolutionen. Und der Gewalt. Denn der Kampf linker, studentischer Gruppen gegen den Kapitalismus, das Bürgertum und die aus ihrer Sicht verdruckste Elterngeneration, die ihre Mitschuld an der Nazi-Herrschaft leugnete, kulminierte nicht nur in Demonstrationen, sondern auch in Tod und Zerstörungswut. Dabei war „1968“eigentlich 1967, denn mit dem Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 begann die Bewegung.
Heute, 50 Jahre danach, fragen wir: Was ist geblieben? Dass das Jahr und seine Generation das Land verändert haben, ist sicher. Nur wie, darüber streiten die Gelehrten. Die Linke reklamiert für sich, dass sie Umweltschutz, freie Liebe, antiautoritäre Erziehung, Emanzipation und Entnazifizierung der Eliten angestoßen hat. Konservative halten die 68er für überschätzt, sprechen vom Mythos und betonen die Doppelmoral derer, die heute das Leben leben, das sie bekämpften. Beide haben recht. Die Kritik ist so ritualisiert wie ihre Glorifizierung.
Unbestritten, dass die Auseinandersetzung mit der obrigkeitsstaatlichen Hörigkeit überfällig war. Die Fragen an Mittäter und Mitläufer der NS-Zeit beschleunigten die Identitätssuche. Der Konsens der historischen Verantwortung der Bundesrepublik ist auch ein Ergebnis von 1968. Unbestritten auch, dass in den Wohnzimmern ordentlich durchgelüftet wurde: Frauenrechte, gesellschaftlicher Diskurs, neue Rollen der Geschlechter. „Es war die Zeit, in der Jungen auch weinen durften, Väter sich mit Kinderwagen nicht nur am Sonntagnachmittag zeigten“, notiert selbst der konservative Historiker Paul Nolte.
Der Kampf zwischen links und rechts, zwischen Revoluzzern und Bewahrern, war auch so mächtig, weil er Kurt Georg
Kiesinger Rudi
Dutschke
Peter Paul Zahl
Peter Gauweiler weltweit geführt wurde, die 68er zu einer „internationalen sozialen Bewegung“(Fritz Stern) aufstiegen. Und weil der Kampf vielfach tödlich war. Die Attentate auf Martin Luther King und Robert Kennedy schockierten die Welt. Den Aufstand in der Tschechoslowakei schlugen die sozialistischen „Freunde“blutig nieder.
In Deutschland folgten der Ermordung Ohnesorgs (dass der Täter DDR-Spitzel war, stellte sich erst später heraus) das Attentat auf Rudi Dutschke, die Notstandsgesetze, die Hochschulproteste, die Ohrfeige für Kanzler Kurt Georg Kiesinger durch die Studentin Beate Klarsfeld. Allesamt Wegmarken des Aufruhrs.
Doch Teile der Linken entlarvten sich als schnöde Kriminelle durch ihren Gewalttrip, andere täuschten sich schlichtweg. Sie überhöhten ihre Unzufriedenheit mit den Eliten zu einer Staatskrise und faselten von kommunistischen Märchenwelten, die in Wahrheit Zwangsregime waren. Willy Brandt, die SPD-Ikone, sollte recht behalten, als er 1968 im Bundestag zu den Notstandsgesetzen sagte: „Die Demokratie wird nicht nur leben, sie wird sich weiterentwickeln.“Ein linker Vordenker wie Günter Grass, der damals dem Kanzler mangelnde Vergangenheitsbewältigung vorwarf, verschwieg selbst seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Sie sind Teil des noch heute bekannten Vorwurfs: „Links reden, rechts leben.“
Wie so oft hilft Schwarz-Weiß nicht weiter. Das Erbe der 68er ist differenziert. In einer zehnteiligen Serie gehen wir dem auf die Spur. Welche politischen Theorien steckten hinter der Bewegung? Welche Köpfe prägten 1968? Einige sehen Sie schon in unserer Collage oben. Was blieb von der sexuellen Revolution, wie hat sich die Erziehung verändert? Das sind nur einige Fragen, die wir beantworten wollen. Los geht es mit einem besonderen Autor: Nikolaus Schneider, ehemaliger rheinischer Präses und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, geboren 1947, und seine Frau Anne berichten von ihrem ganz persönlichen 1968.