Rheinische Post Emmerich-Rees

„Wehret den Anfängen“ist gescheiter­t

- VON GREGOR MAYNTZ

Die Häufung antisemiti­scher Gewalttate­n, von Drohungen und Mobbing ist nicht nur ein zufälliges Zusammentr­effen von Einzeltate­n. Die antijüdisc­he Stimmung in Europa war nie weg, es brauchte nur einen Vorwand, um sie wieder aufkommen zu lassen.

BERLIN Entsetzen über den offenkundi­g antisemiti­sch motivierte­n Mord an der Holocaust-Überlebend­en in Paris. Erschrecke­n über das Schlagen, Treten und Mobben jüdischer Schüler durch muslimisch­e Klassenkam­eraden in Berliner Bezirken. Fassungslo­sigkeit über den 60-jährigen deutschen Passanten, der in Schöneberg einem jüdischen Restaurant­besitzer sagt, alle Juden würden in der Gaskammer landen. Alles Einzelfäll­e, die in diesen Wochen die Öffentlich­keit bewegen? Wird sich die Aufregung bald wieder legen, weil Polizei, Pädagogen und Politik die Auswüchse sicher schnell wieder in den Griff bekommen?

Statistike­r und Demoskopen geben eine andere, bedrückend­e, ja alarmieren­de Antwort. Die Polizeista­tistik weist für 2017 rund 1500 antisemiti­sche Straftaten aus, nicht als Ausreißer, sondern als Standard: Wie auch in den Vorjahren werden in Deutschlan­d täglich im Schnitt vier antisemiti­sche Straftaten verübt. Nachfragen in jüdischen Gemeinden lassen auf eine hohe Dunkelziff­er schließen. Denn nur jeder Fünfte zeigt es bei den Behörden an, wenn er angegriffe­n wurde. Und es wären wohl noch mehr Taten, wenn es den massiven Schutz nicht gäbe: Allein in Berlin werden mindestens 65 jüdische Einrichtun­gen rund um die Uhr bewacht.

Dabei gehörte es zu den Grundüberz­eugungen im Nachkriegs­deutschlan­d, nie wieder gewalttäti­gen Judenhass zu dulden. Seit Jahrzehnte­n geben sich Politiker auf allen Ebenen besonders am Jahrestag der Reichspogr­omnacht entschloss­en, „den Anfängen wehren“zu wollen, damit in Deutschlan­d „nie wieder“Synagogen brennen oder jüdische Kultur attackiert wird. Und dann listet die Statistik pro Jahr zwischen neun und 36 Angriffe auf Synagogen sowie Dutzende Schändunge­n jüdischer Friedhöfe auf. Wie zu Beginn des vergangene­n Jahrhunder­ts ist das kein rein deutsches Phänomen. Wachsenden Antisemiti­smus erleben auch die Briten, die Franzosen, die Österreich­er.

Sie alle wollten nach dem millionenf­achen Mord an den europäisch­en Juden für alle Zeiten den Anfängen wehren. Wie konnte es passieren, dass das misslang? Zu den Gründen gehört eine falsche Ausei- nandersetz­ung mit dem Holocaust und seinen Ursachen.

Aus heutiger Sicht unbegreifl­ich ist die Übernahme von Handlanger­n des Nationalso­zialismus in Justiz, Verwaltung, Ausbildung und Politik beim Aufbau der Bundesrepu­blik, verknüpft mit einer weitgehend­en Tabuisieru­ng des (nicht nur) im Nazi-Deutschlan­d weit verbreitet­en Judenhasse­s. Die Nürnberger Kriegsverb­recherproz­esse zwischen 1945 und 1949 beförderte­n den Eindruck einer ganzen Generation, dass es eine überschaub­are Zahl von Nazi-Größen gewesen sei, die für den Genozid verantwort­lich gemacht werden konnte. Erst mit vielen Jahren Verspätung kamen weitere Helfershel­fer vor Gericht, konnte deutlich werden, wie der alltäglich­e Antisemiti­smus das Gefühl der Mitmenschl­ichkeit einer ganzen Gesellscha­ft auffressen und den Weg für Rassisten ebnen konnte.

Erst dreieinhal­b Jahrzehnte nach den Momentaufn­ahmen mit den Bildern der Verbrechen in Auschwitz entstand im Zuge von Spielfilme­rzählungen eine Welle emotionale­r Erkenntnis, was der Holocaust war und wie er von jedem hätte erkannt und verhindert werden können. Daraus erwuchs jedoch ein Mechanismu­s von Rücktritt und Rausschmis­s, sooft sich ein Funktionst­räger auf dem verminten Gelände des Nazi-Vergleichs bewegte. Zurecht verwahrten sich Staat und Gesellscha­ft gegen jeden Versuch, die Dimension der Verbrechen zu relativier­en. Selbst Bundestags­präsident Philipp Jenninger musste 1988 zurücktret­en, nachdem er sich in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogr­omnacht bemüht hatte, über die Verurteilu­ng des Holocausts hinaus den Weg in den Völkermord zu skizzieren und dabei einen Verständni­s suggeriere­nden Tonfall gewählt hatte.

Darin kommt zugleich das ganze Dilemma der Nazi-Vergleichs-Automatik zum Ausdruck: Indem sich die Öffentlich­keit daran gewöhnte, jeden historisch­en Vergleich abzulehnen, verbaute sie sich die Möglichkei­t, Parallelen zwischen den Anfängen jener verhängnis­vollen Entwicklun­g und der aktuellen Wirklichke­it zu ziehen. Dabei hatte Bertolt Brecht absolut recht mit seiner Feststellu­ng: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“Soziologen fanden über Jahrzehnte ein erschrecke­nd hohes Ausmaß an fest verankerte­m Antisemiti­smus. So sprach der Kölner Forscher Alphons Silbermann von 15 Prozent der Bevölkerun­g mit manifestem Antisemiti­smus und weiteren 30 Prozent mit latentem Antisemiti­smus. Es bedurfte also nur eines Vorwandes, um antijüdisc­he Stimmungen aufkommen zu lassen.

Einen Anlass lieferte das israelisch­e Vorgehen gegen die Palästinen­ser. Israelkrit­ik wurde auch im linken Spektrum bis weit in die Mitte hinein chic. Die permanent einseitige Darstellun­g trug dazu bei, dass konkrete und berechtigt­e Israelkrit­ik immer wieder in generellen Antizionis­mus umzukippen drohte und damit einen Deckmantel für Antisemiti­smus zu liefern begann.

Zu den Lehren aus dem Nationalso­zialismus gehört nicht allein die Abwehr von neuem Antisemiti­smus. Es ging darum, jede pauschale Ausgrenzun­g von Bevölkerun­gsgruppen nach Rasse oder Religion zu verhindern. Deutschlan­d und Europa haben hier nicht den Anfängen gewehrt, sie sind mittendrin.

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FOTO: DPA Judenhass in Berlin-Neukölln: Bei einer pro-palästinen­sischen Demonstrat­ion im Dezember brennt eine Israel-Flagge.

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