Das Haus der 20.000 Bücher
In Woloschin hatte Yehezkel die Brisker Methode von den Nachkommen des berühmten Rabbi Hayim ben Yitshak erlernt, der seinerseits bei dem Gaon von Wilna, einem der einflussreichsten jüdischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, studiert hatte. Unter Anleitung von Chaim Soloweitschik erwarben Studenten im späten 19. Jahrhundert die Fähigkeit, den Zusammenhang, in dem sich Ideen entwickelten, sowie die genaue Bedeutung der einzelnen Wörter zu analysieren. So wirkmächtig, so rein logisch war Soloweitschiks Brisker Technik, dass sie das Talmud-Studium von Grund auf umgestaltete. Sie ließ neue Ideen zu, denn sie bot Platz für wissenschaftliche Theorien, für Medizin und all die Ideen, die das Leben von Männern und Frauen überall auf der Welt täglich veränderten. Einmütig verschmähten die Studenten das, was sie „Pilpul“nannten. Dieses Verfahren bestand im Wesentlichen darin, undurchsichtige Textbestandteile mechanisch nachzuplappern, nicht zusammenpassende Zitate und Wendungen gewaltsam miteinander in Übereinstimmung zu bringen, ohne den Sachverhalt detailliert zu begreifen. In den siebziger Jahren hatten die Debatten über marxistische Detailfragen etwas Pilpulhaftes angenommen: Man suchte wie besessen nach einem verborgenen Sinn in Bänden, die nicht mehr die Macht hatten, die Welt zu verändern. Chimens sozialistische Bibliothek büßte ihre Zauberkraft nach und nach ein. Sie setzte Staub an.
Als Chimen 2010 starb, hatte sich der Marxismus längst überlebt, und viele Bücher, die er so hochgehalten hatte, waren zu Kuriositäten geworden. Die überzogenen Preise zu Zei- ten, als sich die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Macht befand, ließen sich nun ebenso schwer nachvollziehen wie die sechsstelligen Beträge, die man im 17. Jahrhundert kurzzeitig auf den Blumenmärkten von Amsterdam für Tulpen hatte zahlen müssen. Doch trotz dieser Umschwünge hatten sowohl Chimen als auch sein Haus der Bücher einen so guten Ruf, dass der Salon ein wesentlicher Teil der intellektuellen Szene Londons blieb.
Während immer mehr seiner engen Freunde und Verwandten starben – Alec Waterman erlitt 1966 einen Schlaganfall; Collins starb 1966 an Prostatakrebs; Robinson 1977 an Bauchspeicheldrüsenkrebs; Chimens Brüder Moshe und Yaakov David verschieden 1975 und 1977; Talmon 1980; Sraffa 1983 –, trat Chimen in eine neue Lebensphase ein: als Großvater. Er unterbrach seine Arbeit bisweilen, um die Enkel zu unterhalten, die nun, eine Generation nach seinen eigenen Kindern, wieder durch die Zimmer des Hillway tobten. Besucher, die unangemeldet vorbeischauten, konnten erleben, wie er Yehezkels knorrigen alten Spazierstock, dessen Herkunft sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen ließ, auf den Fingerspitzen balancierte und im Esszimmer herumtanzte – zur Belustigung seiner fünf Enkel und deren Cousins und Cousinen, die Mimi alle in ihr mütterliches Herz schloss. Bisweilen führte Chimen auch sein anderes Kunststück vor: Er türmte ineinandergesteckte Plastikbecher auf seinem Kopf auf und watschelte nach Art von Charlie Chaplin wie ein Pinguin durch den Raum. Da er in der akademischen Welt Anerkennung und Bestätigung gefunden hatte, fühlte er sich nun vielleicht in der Lage, ein wenig abzuschalten, sich selbst nicht mehr ganz so ernst zu nehmen.
Zwischen den Mahlzeiten schaffte er manchmal Platz entweder auf dem Tisch in der Küche oder im Esszimmer und holte ein Holzkästchen mit Dominos hervor. Im Unterschied zu den üblichen Dominosteinen, kleinen schwarzen Rechtecken mit eingeprägten weißen Punkten, waren dies große Holzstücke mit verschiedenfarbigen Punkten für jede Augenzahl. Die Farben erleichterten es uns Kindern, das russische Dominospiel zu erlernen. Es gibt etliche Varianten, doch bei unserer verfolgten wir zwei Ziele: Als Erstes war eine Dominoschlange herzustellen, bei der die Doppelsteine quer gelegt und neue Reihen gebildet wurden. Ergaben die Augen der Endsteine ein Vielfaches von fünf, konnte man sich diese Zahl gutschreiben. Im Spielverlauf kamen natürlich immer mehr Doppelsteine hinzu, so dass sich zahlreiche Enden ergeben konnten und die Punktzahl bisweilen dreißig überstieg. Die zweite Strategie bestand darin, alle Steine, die man hatte, möglichst schnell loszuwerden. War das erreicht, rundete man die Punkte des Gegners bis zur nächsten Fünferzahl auf und fügte das Ergebnis der eigenen Punktzahl hinzu. Der Umgang mit den Zahlen übte eine ungeheuere Faszination aus auf Chimen, den Schachexperten. Gewöhnlich spielten wir so lange, bis ein Teilnehmer fünfhundert Punkte erreicht hatte, was zehn oder zwanzig Runden erfordern konnte. Manchmal spielten wir bis tausend, und die Stunden flogen nur so dahin. Gelegentlich nahmen unsere Spiele – wie ein besonders langes Kricket-Match – ein ganzes Wochenende in Anspruch. Irgendwann befahl Mimi uns aufzuhören, damit wir den Tisch, auf dem wir uns unbefugt ausgebreitet hatten, für sie freimachten. Später wurde mir klar, dass Chimen, als wir Enkelkinder klein waren, schonend mit uns umging und zuließ, das wir hohe Punktzahlen ansammelten, indem er absichtlich Fehler machte. Als wir älter wurden, gab er sich mehr Mühe, und als Jugendlicher maß ich meine Kräfte mit Chimen: Wir beschäftigten uns endlos mit diesem Spiel, das er aus seiner lang zurückliegenden Kindheit heraufbeschworen hatte.
Bei großen Familienzusammenkünften am Esszimmertisch bat Chimen häufig ein Kind um Rat oder um einen Kommentar zu einer Frage der Weltpolitik und antwortete dann ganz ernsthaft: „Ich stimme allem zu, was du sagst.“Er lächelte ein wenig, als sei er äußerst vergnügt über den Austausch, doch nicht auf herablassende Art – vielmehr freute er sich darüber, dass ein junger Mensch fähig war, intelligent zu einem wichtigen Thema Stellung zu nehmen. „Der Lauf der Welt ist geheimnisvoll, aber alles kommt am Ende ins Lot“, mochte die Empfindung hinter diesem Anflug eines Lächelns gewesen sein.
Schon seit ihrer Eheschließung veranstalteten Mimi und Chimen große Seder-Essen – jeweils eines an den beiden ersten Abenden des Pessachfestes. Einige ihrer Freunde aus kommunistischen Tagen stellten sich nach wie vor ein. Daneben erschienen eine Reihe von Besuchern aus dem Ausland und natürlich der Kern der Familie: meine Eltern und wir drei Kinder; Jenny und Al und ihr Nachwuchs; sowie eine Menge Verwandter von Mimis Seite: Peter und Vavi samt ihren Kindern; Eve und ihr Sohn Tom. (Fortsetzung folgt)