Rheinische Post Emmerich-Rees

Der nützliche Einwandere­r

- VON MATTHIAS BEERMANN

Während der US-Präsident die Zahl der Migranten reduzieren will, erhöht Kanada die Quoten. Beide Länder eint jedoch, dass sie die Einwanderu­ng konsequent steuern und auf schnelle Integratio­n setzen. Das sollten wir auch.

DÜSSELDORF Donald Trump macht Druck. Er will um jeden Preis die Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen, die er seinen Wählern fest versproche­n hat. Ein Bollwerk gegen die illegale Einwanderu­ng aus dem Süden, mehr als 3000 Kilometer lang und 15 Milliarden Dollar teuer. Weil der US-Kongress bisher erst einen Bruchteil des Geldes genehmigt hat, droht Trump damit, im Herbst seine Unterschri­ft unter das Haushaltsg­esetz zu verweigern und so den Staatsappa­rat lahmzulege­n. Die meisten Politiker in Washington, selbst aus Trumps eigenem Lager, halten den Mauerbau zwar für herausgesc­hmissenes Geld. Aber am Ende wird der Präsident seine Grenzbefes­tigung wohl bekommen. Denn die Migrations­frage ist selbst im traditione­llen Einwanderu­ngsland USA politisch hochbrisan­t geworden.

Es geht dabei längst nicht mehr nur um illegale Einwandere­r. Trump beabsichti­gt, den Zuzug insgesamt zu begrenzen. So will er die berühmte Green Card-Lotterie abschaffen, bei der Aufenthalt­sgenehmigu­ngen an Bewerber aus bestimmten Ländern verlost werden. Außerdem will er die Zahl der Familienzu­sammenführ­ungen stark reduzieren. Das könnte nach Schätzunge­n die Zahl der legalen Einwandere­r um 44 Prozent verringern, pro Jahr um fast eine halbe Million Menschen. Es wäre der drastischs­te Einschnitt seit den 1920er Jahren. Und es wäre nüchtern gesehen wohl ein höchst unvernünft­iger Schritt. Alle Studien, zuletzt der 2017 erschienen­e Bericht der Nationalen Wissenscha­ftsakademi­e, zeigen, dass Einwanderu­ng langfristi­g kräftig zum wirtschaft­lichen Wachstum der USA beiträgt.

Beim nördlichen Nachbarn Kanada muss man das niemandem umständlic­h erklären. Für die Kanadier ist Einwanderu­ng eine Frage des Überlebens, weit über 80 Prozent halten sie für eine gute Sache. Die Einwanderu­ngsquote wurde in den vergangene­n Jahren mehrfach erhöht. Ohne diesen ständigen Zufluss an Menschen würde die kanadische Bevölkerun­g ab 2030 kontinuier­lich schrumpfen. In dem gewaltigen Territoriu­m, das heute schon sehr dünn besiedelt ist, ließe sich die Infrastruk­tur in weiten Teilen nicht mehr aufrechter­halten – Kanada drohte die Auszehrung. Denn das Land schafft Jobs, für die es ohne Migranten keine Arbeitskrä­fte gäbe. Seit etwa sechs Jahren sind rechnerisc­h alle neuen Stellen mit Einwandere­rn besetzt worden.

Kanadas Einwanderu­ngspolitik entspringt also schierer Notwendigk­eit. mit Gutmensche­ntum hat sie nichts zu tun. Seit 1962 setzt das Land dabei auf eine scharfe Auswahl. Damals wurde per Erlass die Qualifikat­ion eines Bewerbers zum entscheide­nden Merkmal, nicht mehr seine Herkunft. Seit 1967 gibt es das berühmte Punktesyst­em – wer mindestens 67 von 100 möglichen Punkten erreicht, hat einen Fuß in der Tür. Gesucht wird der gut ausgebilde­te Mittelschi­chtbürger mit der Fähigkeit, sich schnell zu integriere­n. Die entscheide­nde Frage lautet: Passt er zu uns, nützt er uns?

Freilich funktionie­rte das System längst nicht immer so gut, wie die Bewunderer des kanadische­n Modells behaupten. Deswegen wurde es immer wieder angepasst. Über das reine Punktesyst­em kommt heute nur noch etwa die Hälfte der Einwandere­r ins Land. Daneben haben alle kanadische­n Provinzen eigene Programme entwickelt, und seit einiger Zeit gibt es auch einen Express-Zugang: Wer ein konkretes JobAngebot eines kanadische­n Arbeitnehm­ers vorweisen kann, darf an anderen Bewerbern vorbeizieh­en. Dann dauert die Einwanderu­ngsprozedu­r nur noch ein halbes Jahr, wo sonst gerne mal fünf Jahre und mehr ins Land gehen.

Kanada nimmt auch ein gewisses Kontingent an Menschen aus humanitäre­n Gründen auf, aber zwei Drittel der Einwandere­r sind – logischerw­eise – Wirtschaft­simmigrant­en. Deren Streben nach einer besseren Zukunft deckt sich glücklich mit dem Bedarf Kanadas an neuen Bürgern. Und genau das wollen sie auch fast alle werden: 85 Prozent der Einwandere­r nehmen die kanadische Staatsbürg­erschaft an, die sie schon nach drei Jahren beantragen können. Ohne übrigens ihre bisherige Nationalit­ät aufgeben zu müssen. Das ist für Kanadier wie auch für US-Amerikaner kein Problem, stammen die meisten von ihnen doch auch von Siedlern mit vielfältig­er Herkunft ab. Die deutsche Angst vor gespaltene­n Loyalitäte­n würde kaum einer verstehen.

Auch in klassische­n Einwanderu­ngsländern wie den USA oder Kanada wird zwar gelegentli­ch über das rechte Maß der Migration gestritten – grundsätzl­ich infrage gestellt wird sie aber nur von ganz wenigen. Das ist wohl der entscheide­nde Unterschie­d zu den meisten europäisch­en Ländern, die dieses Zutrauen, dass Zuwanderun­g auf lange Sicht Vorteile bringt, nicht entwickelt haben. Stattdesse­n steht Migration unter einer Art Generalver­dacht, wobei gerade im wirtschaft­lich boomenden Deutschlan­d die Angst vor zusätzlich­er Konkurrenz um Arbeitsplä­tze derzeit weniger stark ausgeprägt scheint als eine diffuse Angst vor ethnischer und kulturelle­r Überfremdu­ng.

Dass Einwanderu­ng ein Land stark verändern kann, ist unbestreit­bar. In einigen US-Bundesstaa­ten wird heute mehr Spanisch als Englisch gesprochen, und in Toronto gibt es Viertel, wo Asiaten längst die Mehrheit stellen. Aber vielleicht haben wir bald gar keine andere Wahl mehr, als uns diesem Wandel zu stellen. Überall in Europa, ganz besonders stark in Deutschlan­d, wird der demografis­che Wandel dazu führen, dass Arbeitskrä­fte fehlen – trotz Digitalisi­erung. Wenn wir unseren Wohlstand bewahren wollen, werden auch wir künftig die Einwanderu­ng organisier­en müssen, sie steuern, statt sie nur zu erdulden. Dafür brauchen wir Kriterien, Kapazitäts­grenzen, kurz: eine Strategie. Nicht alles müssen wir neu erfinden, es gibt ja Vorbilder. Wir müssen nur allmählich mal loslegen.

Für die Kanadier ist Einwanderu­ng eine Frage des Überlebens, über 80 Prozent halten sie für eine gute Sache

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