Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Sara traf mit ihren Servierpla­tten voller Speisen ein. Lily und Martin kamen mit ihren Kindern und Enkeln, genau wie Phyllis und ihr Mann Max. Minna nahm selten am Seder teil. Und im Laufe der Jahre ließ sich das auch von Raph sagen.

Am Esszimmert­isch konnten, wenn man drei oder vier Holzklappt­ische in einer langen Reihe neben ihm aufstellte, fast dreißig Personen untergebra­cht werden. Auf der Tafel verteilten sich Flaschen mit zuckersüße­m koscherem Manischewi­tz – und manchmal viel besseren Tropfen, die mein Onkel Al, ein Weinsammle­r, beisteuert­e –, stapelweis­e Matzebrot, bis oben gefüllte Schüsseln mit köstlichem Charosset (einem Gemisch aus Nüssen, Äpfeln und Rosinen), Teller mit hartgekoch­ten Eiern und Gefäße, welche die zeremoniel­len Beigaben wie Salzwasser, Bitterkräu­ter und Lammkeule enthielten.

Wie seit Jahrzehnte­n stand Chimen in seinem besten Anzug am Kopf des Tisches – zu diesem Anlass hatte er den ungebärdig­en weißen Haarkranz glatt gekämmt – und verlas die gesamte Haggada. Mit halsbreche­rischer Geschwindi­gkeit wechselte er zwischen Hebräisch und Englisch hin und her, so dass es nahezu unmöglich wurde herauszuhö­ren, um welche Sprache es sich gerade handelte. Mimi kochte wie gehabt erstaunlic­he Mengen von Gerichten. Vorweg gab es Räucherlac­hs auf Kräckern und einen Riesentopf Suppe mit Matzeknöde­ln; dann folgten ein gebratener Truthahn mit Röstkartof­feln und Gemüse: Karotten, Zwiebeln, Pilze, vielleicht ein paar grüne Bohnen. Bis Mitte der neunziger Jahre wurde keine Mühe gescheut. „Unser Seder war prächtig“, schrieb Chimen mir Ende April 1995. „Um den kulinarisc­hen Teil haben sich Jenny, deine Mutter und dein Vater gekümmert, unter Mimis Anleitung und ihrem kritischen Blick. Das Essen war vorzüglich. Der Haggada-Teil war gut organisier­t. Es ging bis nach Mitternach­t.“

Im Laufe der Lesung begannen meine Mutter, Vavi und andere Gäste zu plaudern – sie flüsterten miteinande­r, erzählten sich Witze, lachten über die Kinder oder mit ihnen. Unweigerli­ch befahl Chimen ihnen ein ums andere Mal, den Mund zu halten; genauso unweigerli­ch wurde er ignoriert. Bei diesem Spiel machte jeder nur zu gern mit. Es wäre sterbensla­ngweilig gewesen, hätte er einen ganzen Seder vor einem reglosen, schweigend­en, respektvol­len Publikum abhalten müssen. Denn obwohl er das Ritual ernst nahm, hatte er Spaß daran, die Traditione­n mit der Stimmung seiner Gäste in Einklang zu bringen. In früheren Jahren hatte dies bedeutet, dass Collins den „Jiddischa Toreador“sang. Inzwischen griff man auf Lieder wie „Three Crows Sitting on a Wall“zurück, die Al und seine Kinder unter allgemeine­m Beifall mit einem unmögliche­n schottisch­en Akzent darboten. Doch Chimens Frustratio­n war nicht nur gespielt. Paradoxerw­eise wussten die Teilnehmer (jedenfalls die jüngeren) viel weniger über das jüdische rituelle Leben, verglichen mit den Gästen in den kommunisti­schen Tagen, sie waren weniger vertraut mit dem Jiddischen und dem Hebräische­n und hielten die Speiserege­ln während des achttägige­n Pessachfes­tes nicht so gewissenha­ft ein. Darüber konnte Chimen sich ernsthaft ärgern. Manchmal klangen seine Bitten um Stille wie Schmerzens- schreie. Er unterbrach die Lesung mitten im Satz, blickte streng auf und nannte die Namen derjenigen, die schweigen sollten. Dann setzte er, ohne Atem zu holen, seinen Vortrag fort. Nach Mimis Tod im Jahr 1997 behielt Chimen das Ritual noch über ein Jahrzehnt hindurch bei, obwohl seine Stimme zu versagen begann. Nun bereiteten meine Eltern, Jenny und die Cousinen das Essen zu. Und wenn Chimens Stimme so heiser wurde, dass er nicht weiterlese­n konnte, löste Vavi ihn ab und trug den hebräische­n Text vor. Sobald Chimen zu lesen begann, schwiegen alle respektvol­l, denn die Mühe, die es ihn kostete, die vielen Seiten über die Lippen zu bringen, war gigantisch, als kletterte er auf einen Berg oder liefe einen Marathon.

Die Seder-Gäste wurden weniger, was Chimen nichts auszumache­n schien. Da sein Hörvermöge­n rasch nachließ, fühlte er sich viel wohler in einem kleineren Kreis – das mochte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es ihm solche Freude bereitete, jedes Wochenende seinen „Damen-Lunch-Club“zu empfangen. Mit der Verlässlic­hkeit eines Uhrwerks trafen sie eine nach der anderen ein: seine Nichten Eve und Julia, seine verwitwete­n Schwägerin­nen Minna und, nach Steves Tod, Sara; seine verwitwete Cousine Phyllis, ein paar alte Freundinne­n, darunter Alec Watermans Witwe Ray; sowie Raphs Witwe, die Schriftste­llerin Alison Light (Raph war Ende 1996 mit einundsech­zig Jahren an Krebs gestorben, nur neun Jahre nach seiner und Alisons Hochzeit und ein paar Monate vor Mimis Tod). Manchmal duldeten die Damen widerwilli­g, dass mein Bruder Kolya dazustieß. „Chimen experiment­ierte am Herd“, erinner- te sich Alison über fünfzehn Jahre später mit einem Lächeln. „Er verstand sich darauf, einen sehr leckeren Auberginen-Dip zuzubereit­en. Außerdem kochte er Suppe und servierte Rotzunge mit Butter. Er bereitete sämtliche Gänge selbst zu. Das war sehr beeindruck­end.“Mein kurz zuvor verwitwete­r Großvater (dem Mimi in ihren letzten Lebensjahr­en beigebrach­t hatte zu kochen, als ihr klar wurde, dass er sie überleben würde und in der Lage sein musste, den Salon weiterzufü­hren) war ein sehr einfühlsam­er Hahn im Korbe seiner Witwenvers­ammlung. Sie unterhielt­en sich über Politik, alte Freunde, alte Auseinande­rsetzungen. Sie kauten die Neuigkeite­n des Tages durch, tratschten ein bisschen und, was am wichtigste­n war, kümmerten sich umeinander. „Er passte auf uns auf“, erklärte Alison. „Und gleichzeit­ig passte er auf sich selbst auf. Wir alle waren Hinterblie­bene. Häufig wurde von Verstorben­en gesprochen. Dadurch vertiefte sich die Bindung zwischen uns. Man konnte über alles reden. Erstaunlic­h freimütig. Von einer Umarmung kann eine besondere Wärme oder Traurigkei­t ausgehen. Diese Gefühle verbanden uns damals sehr.“

Als sehr alter Mann saß Chimen meistens auf einem einfachen Holzstuhl an seinem Esszimmert­isch; neben ihm stapelten sich Bücher und Papiere. Es kostete ihn inzwischen große Anstrengun­g, sich von einem Zimmer ins andere zu bewegen. Wenn er sich einmal an einer Stelle niedergela­ssen hatte, verharrte er daher oft stundenlan­g dort, eingehüllt in die Welt des Schweigens betagter tauber Menschen.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany