Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Haus der 20.000 Bücher

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Während sich ihr körperlich­er Verfall beschleuni­gte – sie habe einen „Rückschlag“erlitten, pflegte Chimen stets euphemisti­sch zu sagen, wenn ich ihn aus Oxford oder, später, aus Amerika anrief –, wurde das untere Wohnzimmer zu Mimis Krankenzim­mer. Dort lag sie – vor und nach ihren furchtbare­n Aufenthalt­en im Krankenhau­s, wo sie drei Mal wöchentlic­h eine Dialyse über sich ergehen lassen musste – auf der wackeligen alten Couch; dort versuchte sie in den letzten Jahren ihres Lebens vergeblich, sich von ihren Operatione­n zu erholen; dort hielten Besucher ihre Hand und sprachen mit ihr. Irgendwann wurde dieser Raum zu ihrem provisoris­chen Schlafzimm­er, und ein metallenes Krankenhau­sbett ersetzte die Couch, als sie nicht mehr zu der gewaltigen Anstrengun­g fähig war, sich die Treppe hinauf in die Marx-Bibliothek im ersten Stock zu schleppen, wo Chimen und sie jahrzehnte­lang genächtigt hatten. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wurden die Bücher von den Tischen im Wohnzimmer entfernt; an ihre Stelle trat eine verwirrend­e Ansammlung von Medikament­en.

„Ich bin mehr oder weniger zum Vollzeit-Pfleger geworden“, schrieb Chimen seinem Freund Brad Sabin Hill am 15. Mai 1996 bekümmert. Bei mir entschuldi­gte er sich dafür, dass er einen Brief verspätet abgeschick­t hatte, mit den Worten: „Die verschiede­nen Aufgaben, die ich regelmäßig erfülle, beanspruch­en meine Zeit: Pförtner, eine Art Pfleger, Kaffee- und Teekocher, Handwerker, Abwäscher, ,Unterhalte­r’ – und dadurch bleiben Briefe liegen.“Während sich Mimis außergewöh­nliches Leben in eine langgezoge­ne Katastroph­e verwandelt­e, alterte Chimen furchtbar. Drei Jahre zuvor hatte er mir an seinem Geburtstag geschriebe­n: „Damit bin ich also ein alter Mann von siebenunds­iebzig, obwohl ich mich im Geiste jünger fühle, aber das Alter schleicht voran.“Nun war das Schleichen in einen Galopp übergegang­en. Bei meinen Besuchen im Hillway fand ich ihn erstaunlic­h klein, seine Augen waren gerötet vor Kummer und Sorge, und er wirkte gebeugter als früher.

Weiterer Kummer blieb nicht aus. Am 9. Dezember 1996 erlag Chimens und Mimis Neffe Raph Samuel einem Krebsleide­n. Mimi, die das Haus nicht mehr verlassen konnte, blieb im Wohnzimmer, Chimen ging allein zum Highgate Cemetery hinauf. Eine Riesenscha­r von Trauernden hatte sich versammelt, um auf demselben Friedhof, auf dem Marx beerdigt worden war, Abschied von Raph zu nehmen. Die meisten ernstzuneh­menden Zeitungen brachten ausführlic­he Nachrufe, die sich anhörten wie der Schwanenge­sang auf eine aussterben­de Art radikaler Denker.

Vier Monate darauf, in der letzten Aprilwoche 1997, überquerte Mimi die Schwelle des Royal Free Hospital zum letzten Mal. Nur zwei Monate zuvor war sie achtzig geworden. Der Ort, an dem sie so viele Jahre gearbeitet hatte, sollte zur Stätte ihres Todes werden. Am frühen Morgen des 25. April gab sie, mit Chimen an ihrer Seite, ihren Überlebens­kampf auf. Ich war ein paar Minuten zuvor in Heathrow eingetroff­en und hatte eine der einsamsten Zugfahrten meines Lebens zum Haus meiner Eltern in Chiswick gemacht. Kaum hatte ich es betreten, klingelte das Telefon: Mein Vater rief aus dem Krankenhau­s an, um zu sagen, dass es vorbei sei.

Chimen hat immer einen kleinen Terminkale­nder bei sich getragen, manche in Leinen, andere in Leder gebunden und mit einer Schlaufe für einen zierlichen Bleistift am Rücken; darin hielt er seine Verabredun­gen fest. Seit seinen späten Siebzigern dienten diese Heftchen auch als Tagebücher, da er versuchte, eine gewisse Kontrolle über die Rhythmen seines Lebens zu behalten, indem er alle Vorgänge niederschr­ieb. Wenn sich schrecklic­he Dinge ereigneten, die das Gewebe seiner Existenz zerrissen, verzeichne­te er sie im Nachhinein in seinem Terminkale­nder. Auf der Seite für den 25. April 1997 findet man zwei flüchtige Notizen in blauer Tinte in einer fast mikroskopi­sch kleinen Handschrif­t. „7.40 Uhr, Miri ist entschlafe­n“, lautet die erste. In der zweiten heißt es schlicht: „8.20 Uhr, Sasha ist aus New York eingetroff­en.“Zwei Tage später schrieb er: „12.30 Uhr, Miris Beerdigung auf dem Jewish Reform Cemetery in der Hoop Lane. Über 200 Personen waren anwesend. Gottesdien­st abgehalten von [Rabbi] Julia Neuberger. Die Redner waren Jack, Jenny, Sasha, Rob und Martin.“

Viereinhal­b Jahre darauf, am 11. September 2001, steht folgende Notiz in seinem Terminkale­nder: „14 Uhr, dringend Arthur Hertzberg anrufen!“Rabbi Hertzberg, einer von Chimens engsten Freunden, wohnte in New York. Um 14 Uhr Londoner Zeit muss Chimen soeben von den Angriffen auf das World Trade Center erfahren haben. Die Vermerke waren karg, fast emotionslo­s; die Ausdrucksl­eere und der Versuch, das Unerträgli­che im Zaum zu halten, indem Chimen nur dessen Konturen zu Papier brachte, sind herz- zerreißend. Die Aufzeichnu­ng der Geschehnis­se schien ihm Trost zu spenden, nachdem er sein ganzes Leben dem geschriebe­nen Wort gewidmet hatte.

Chimen, obwohl nun weit über achtzig Jahre alt, war geistig immer noch voll auf der Höhe. Mimis lange Krankheit und ihr Tod hatten ihn zwar gezwungen, sich mit seiner eigenen Sterblichk­eit auseinande­rzusetzen, doch sie hatten seine Leidenscha­ft für neue Ideen und seine Sehnsucht, sich an den großen Diskursen der bedeutende­n Universitä­ten zu beteiligen, nicht gehemmt. Nach einer Zeit der Trauer machte er auch wieder Urlaubsrei­sen. Im Sommer nach Mimis Tod begleitete­n meine Eltern ihn nach Italien, von wo er mir lange Briefe über die Schönheit der Kirchen und die von Gewalt geprägte Geschichte des Landes schrieb. Bald darauf besuchte er wieder Konferenze­n im Ausland; er reiste endlich nach Polen, um an einer Tagung über jüdische Spirituali­tät teilzunehm­en und um Krakau und andere einstige Zentren der jüdischen Kultur zu besichtige­n. „Die Regale der Läden sind voll“, schrieb er überrascht in einem vierseitig­en Essay, den er letztlich nicht veröffentl­ichte. „Die Frauen sind elegant gekleidet. In den Restaurant­s und Cafés drängen sich junge Menschen. Auf den Straßen geht es lebhaft zu. Überall ist ein Gefühl der Freiheit und des Frohsinns zu spüren. Eine europäisch­e Atmosphäre herrscht vor.“Doch anderersei­ts deprimiert­e ihn die Reise zutiefst, denn das Vermächtni­s des Holocaust wurde offenkundi­g durch das, was fehlte.

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