Ein tragischer Held
Liverpools Torwart Karius schenkt Real zwei Treffer. Dennoch gewinnt Madrid verdient das Champions-League-Finale.
KIEW/DÜSSELDORF Torhüter können Spiele gewinnen. Torhüter können aber auch Spiele verlieren. Diese Lektion lernen sie irgendwann alle. Es muss ja nicht unbedingt in einem Finale um die Champions League sein. Aber genau das widerfuhr Loris Karius, dem Schlussmann des FC Liverpool. Mit zwei groben Fehlern schenkte der 24-Jährige Real Madrid zwei Treffer. Und nach dem 1:3 im Endspiel von Kiew sank er zu Boden, minutenlang war er allein auf dem Rasen. Tränen flossen, als er sich bei seinen Fans mit rührenden Gesten der Hilflosigkeit entschuldigte. „Es tut mir leid für alle, für die Fans, für das Team, den ganzen Klub. Diese Treffer haben uns den Titel gekostet. Ich habe sie im Stich gelassen“, sagte Karius.
Natürlich machten sich die Experten bereits ihre illustren Gedanken zur Zukunft des deutschen Torwarts der Mannschaft des deutschen Trainers Jürgen Klopp. „Er wird erst in den nächsten Tagen und Wochen merken, was da geschehen ist“, sagte der ZDF-Fachmann Oliver Kahn, „das kann die Karriere eines Torwarts kosten.“Im Fall von Karius, der seit Samstag sogar Morddrohungen erhielt, könnte das sogar eine zutreffende Einschätzung sein. Denn er steht noch am Anfang seiner Laufbahn und hat lange nicht das breite Kreuz, das es den Großen des Fachs erlaubt, nach peinlichen Fehlern zur Tagesordnung überzugehen. Kahn weiß das aus eigener Erfahrung. Er war bei der WM 2002 zum Titan des Zeitungsboulevards aufgestiegen. Und ausgerechnet im Finale gegen Brasilien leistete er sich einen dicken Patzer, der die Begegnung entschied. Kahn hockte nach dem Schlusspfiff in Yokohama ähnlich deprimiert wie Karius in Kiew am Pfosten. „Dafür gibt es keinen Trost“, sagte er. Zerbrochen ist er daran nicht. Aber er war ja auch schon ganz oben.
Dass Karius maßgeblich zur Niederlage des Außenseiters beitrug, ist allerdings nur eine Seite der Wahrheit. Wahr ist ebenfalls, dass Real dieses Spiel verdient gewonnen hat. Mit Ausnahme der ersten 20, 30 Minuten gelang es Liverpool nicht, den Tempofußball ihres Trainers so auf den Platz zu bringen, dass der Favorit ein wenig ins Wanken geriet. Schon da wirkte der Titelverteidiger so, als habe er beschlossen, den ren- nenden Engländern ein wenig Auslauf zu gestatten. Das Ende dieser Druckphase und die Weichenstellung für den Rest der Begegnung sind ziemlich genau zu datieren.
Nach einer halben Stunde nämlich musste Mo Salah, der überragende Offensivmann im Liverpooler Aufgebot, ausgewechselt werden. Der Bruch im Spiel war sofort festzustellen. Klopp musste die Statik ändern, Reals deutscher Mittelfeldmann Toni Kroos musste sich nicht mehr als Sicherungsstation auf Reals linker Abwehrseite he- rumtreiben. Er sortierte fortan mehr aus der Mitte das Spiel der nun seelenruhig kombinierenden Passmaschine aus Spanien.
Den Umschwung hatte Real einem Foul seines Kapitäns zu verdanken. Salah hatte sich im Zweikampf bei Sergio Ramos mit dem Arm eingehängt, als wolle er zum Samstagabendspaziergang aufbrechen. Ramos nahm die Gelegenheit zu einem Ringergriff dankbar an, er klinkte sich seinerseits beim Ägypter ein und riss ihn zu Boden. In noch kämpferischeren Sportarten hätte er damit eine Punktwertung erzielt.
Salah erlitt beim Aufprall auf dem Rasen zumindest nicht den befürchteten Schulterbruch, sondern wohl „nur“eine Bänderverletzung, so dass seine WM-Teilnahme weiter möglich scheint. Doch selbstverständlich unterstellten Liverpooler Fans Ramos Verletzungsabsicht. Das hat sich Reals Kapitän einerseits durch sein Böse-Buben-Image verdient, das er im Laufe der Begegnung mit einem nicht geahndeten Ellenbogencheck gegen Karius noch mal unterstrich. Andererseits aber bleibt das auch nach intensivstem Studium der TV-Bilder ein nicht nachweisbarer Vorwurf. Dass sich das Spiel nach der Ringer-Einlage änderte, ist jedoch eine Tatsache. Real ging programmgemäß nach dem ersten Aussetzer von Karius, der Karim Benzema den Ball beim Abwurf an den Fuß warf, in Führung. Den Ausgleich durch Sadio Mané steckte Madrid unbeeindruckt weg. Und als Gareth Bale mit einem Fallrückzieher alsbald die neuerliche Führung gelang, war es um Liverpool geschehen.
In Kiew begründete das seit drei Jahren nahezu unveränderte RealTeam endgültig eine Ära. Drei Titel in Folge erinnern an das Real der frühen Landesmeisterpokal-Jahre, an Ajax Amsterdam und Bayern München in den 70ern. Auch diese Teams mussten auf den Wegen zu ihren Triumphen, von denen die Älteren an Jahrestagen voller Ehrfurcht murmeln, gelegentlich das Glück beanspruchen – wie Real in dieser Champions-League-Saison in den K.o.-Spielen gegen Juventus und Bayern, mit Abstrichen sogar im Finale. Für alle aber gilt ein goldenes Wort des ewigen Münchner Trainer-Assistenten Hermann Gerland: „Wenn du oft Glück hast, dann ist es irgendwann auch Können.“