Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Freu’ dich Lola!“flüsterte sie. „Etsch, der Herr Ebenseder.“„Oh, der Herr Oberrevident!“rief der Vater. „Beehrt uns auch wieder einmal. Nur herein, nur herein, Herr Oberrevident!“
Oskar stand auf, knöpfte sich den Rock zu und sagte, zu Georg gewendet, es täte ihm wirklich leid, er würde gern noch eine Weile bleiben, aber leider, höchste Zeit, er habe eine Verabredung mit einigen Freunden.
„Ein Kollege aus dem Amt“, sagte der Vater. „Der einzige, der wirklich zu mir hält, die anderen sind alle mehr oder weniger Streberseelen und Intriganten. Ein hochintelligenter Mensch, du wirst dich gut mit ihm verstehen, ein leidenschaftlicher Sammler übrigens, er kauft alles, was irgendwie mit dem Theater zusammenhängt, hat auch das Geld dazu, vierfacher Hausherr. Porträts von Schauspielern sammelt er, Regiebücher, Szenenbilder, alte Theaterzettel, Ansichten vom Ringtheater und vom Kärntnertortheater, sogar Garderobenzettel, überhaupt – Habe die Ehre, Herr Oberrevident. Gestatten, dass ich vorstelle: Mein Sohn Georg, der lang’ Erwartete, eben aus Sibirien zurückgekehrt – Herr Oberrevident Ebenseder.“
„Freut mich, ein Mitglied dieses werten Familienkreises kennenzulernen. Hab’ schon viel von Ihnen gehört. Also heute angekommen! Freut mich. Freut mich aufrichtig“, sagte der Herr Ebenseder, ein kleiner, untersetzter, rundlicher Herr mit einem Kaiserbart, einer großen Glatze und fettgepolsterten Händen.
Er näherte sich Lola und küsste ihr feierlich und mit Andacht die Hand.
„Meine Verehrung, Fräulein Lola, Ihr Ergebenster. Wieder mal fleißig, wie ich seh’. Wie geschickt die Fingerln sind, immer in Bewegung, ein Vergnügen, Ihnen zuzuschauen.“
Der Vater brachte eine Flasche Wein und wartete dem Gast mit einem Glas Gumpoldskirchner auf. Herr Ebenseder ließ sich, wie es die gute Sitte verlangte, ein wenig nötigen.
„Aber wozu die Umständ’ meinethalben, Herr Kollege, ist doch wirklich nicht nötig, bei die teuern Zeiten. Ein Schalerl Tee, da sag’ ich nichts, den Zucker bringt sich ein jeder selbst mit. Aber ein echter Gumpoldskirchner! Na, also, wenn’s durchaus sein muss. – Auf Ihr Spezielles, Herr Kollega. Siebzehner, was? Das spür’ ich gleich, das ist ein Jahrgang! Eine Passion.“
Er gab einen schnalzenden Laut von sich. Lola zuckte nervös zusammen. Herr Ebenseder holte ein schwarzes Lüsterkäppchen aus der Tasche und stülpte es über seine Glatze, denn man war ja leider nirgends vor Zugluft sicher. Dann rückte er näher an Lola heran.
Vally gab Georg ein Zeichen mit den Augen, dass sie nun zur Attacke übergehen werde. Mit unschuldiger Miene machte sie sich an Herrn Ebenseder heran:
„Ist das wirklich wahr, Herr von Ebenseder“, fragte sie, „dass Sie noch einer von denjenigen sind, die den Nestroy persönlich gekannt haben?“
„Aber Tschapperl!“rief Herr Ebenseder mit einem breiten und behaglichen Lachen. „Was du heut’ wieder zusammenredst! Den Nestroy, wie soll ich denn den Nestroy gekannt haben, der ist doch schon in die sechziger Jahr gestorben. Aber den Matras hab’ ich noch gesehen, als Bub im Carltheater, und den Knaack und die Katharina Herzog, die noch in der Uraufführung vom ,Verschwender‘ mitgewirkt hat, seinerzeit.“
„Seit wann sind wir denn per du miteinander, Herr von Ebenseder? Das Neueste! Ich kann mich nicht erinnern, dass wir miteinander Brüderschaft getrunken haben.“
„Na, was nicht ist, kann ja noch werden“, meinte Herr Ebenseder beziehungsvoll.
„Oha! Da gehören aber zwei dazu“, rief Vally. „Morgen um zwölf bis zu Mittag dürfen Sie ,du‘ zu mir sagen.“
Der Vater warf Vally einen bösen Blick zu und suchte abzulenken. Er habe dieser Tage im Schaufenster der Feldmayerschen Buchhandlung ein Aquarell gesehen, berichtete er, die Wolter, als Zigeunerin kostümiert, im Gespräch mit einem älteren Herrn, der sie durch sein Lorgnon fixiere. Er habe sich gedacht, das sei etwas für die Sammlung des Herrn Oberrevidenten.
Sogleich erwachte Herrn Ebenseders Interesse.
„Der Herr mit dem Lorgnon, das ist zweifelsohne der Laube, der Burgtheaterdirektor“, erklärte er. „Natürlich interessiert mich das Bild, sogar sehr. Feldmayersche Buchhandlung, gleich morgen schau ich hin. Die Wolter als Zigeunerin. Was kann das für ein Stück gewesen sein?“
Er zählte an den Fingern die Rollen auf, in denen er die große Tragödin des Burgtheaters bewundert hatte. Als Phädra hatte er sie gesehen, als Maria Stuart, als Lady Milford, als Sappho, als Medea, als Iphigenie, dann in einem modernen Drama, dessen Namen er vergessen hatte, und zum letztenmal, ein Jahr vor ihrem Tode, als Adelheid, im „Götz von Berlichingen“.
„Ja, die Wolter!“sagte er zu Lola. „Wer die nicht gesehen hat – Die Leut’, die heutigentags ins Theater gehn, die tun mir leid. So wie die war, kommt keine mehr. Aus ist’s. – Ich bin so frei.“
Und er goss sich mit einem Seufzer Wein in sein Glas. –
Georg Vittorin saß mit halbgeschlossenen Augen. Herrn Ebenseders eintönige Reden klangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Ein Gefühl des Wohlbehagens, des Geborgenseins war über ihn gekommen, gegen das er sich zur Wehr setzte. Die Dinge in diesem Zimmer griffen nach ihm und hielten ihn fest, als wäre er ihr Eigentum. Das Ticken der Wanduhr, das gedämpfte Licht der Lampe, das leise Klingen der Gläser, die bläulichen Rauchwolken aus des Vaters Meerschaumpfeife, die geräuschlosen Bewegungen der Schwestern, das alles war nur da, um ihn einzulullen, um ihn seiner großen Aufgabe abtrünnig zu machen. Es schien ihm, als wäre der Kampf, der ihm nun bevorstand, entscheidend für alle Zukunft und als müsse er ausgefochten werden, jetzt, sogleich, es durfte keinen Aufschub geben.
Er musste mit sich allein sein. Mit einer leichten Gewaltanstrengung erhob er sich. Er sei müde, sagte er, er wolle zu Bett gehen. Und in dem Augenblick, da er aufstand, war der Kampf auch schon entschieden. Die Dinge rings um ihn her hatten die Gewalt über ihn verloren, sie gaben ihn frei. Trübselig tickte die Wanduhr, in stummer Melancholie schwebten die Rauchringe aus des Vaters Pfeife hinauf zur Decke.
Er verließ das Zimmer.
(Fortsetzung folgt)