Warum werden so wenige abgeschoben?
Der Mord von Wiesbaden und die Fragen nach den Umständen der Flucht des Tatverdächtigen und den Bedingungen des Asylsystems.
BERLIN Nach den Morden von Freiburg, Kandel und Wiesbaden, bei denen Flüchtlinge mutmaßlich die Täter waren, rücken Fragen nach verpassten Abschiebungen und nach dem Umgang mit Kriminellen in den Mittelpunkt. Warum konnte der mutmaßliche Mörder von Susanna, Ali B., mit seiner Familie unbehelligt ausreisen? Die Familie legte der Bundespolizei am Flughafen Düsseldorf zwei irakische Laissez-passer-Papiere mit je vier Namen und acht Aufenthaltsgestattungen vor. Die Polizisten werteten diese als echt und gültig. Die Lichtbilder passten zu den Personen. Einen Vergleich mit den anderslautenden Namen auf den bar bezahlten Flugtickets stellten die Beamten nicht an, da dies „derzeit rechtlich nicht möglich“sei, erklärte die Bundespolizei. Der Flug startete am 2. Juni um 19.10 Uhr; zur Fahndung wurde B. erst am 4. Juni um 3.30 Uhr ausgeschrieben. Was ist ein Laissez-passer? Diese Passierscheine sind die bei deutschen Behörden für Abschiebungen begehrten Passersatzdokumente, die zeitlich begrenzt eine einmalige Ausreise ermöglichen, auch wenn der Ausreisepflichtige über keine gültigen Papiere verfügt. Das Heimatland erklärt sich damit bereit, die Personen wieder einreisen zu lassen. Die irakische Familie machte sich damit in Düsseldorf den Umstand zunutze, dass Behörden es natürlich begrüßen, wenn abgelehnte Asylbewerber auf eigene Kosten und freiwillig das Land verlassen wollen. Warum befand sich Ali B. trotz eines Ablehnungsbescheids noch längere Zeit in Deutschland? Der heute 20-Jährige war auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise über die Balkanroute am 16. Oktober 2015 nach Deutschland gekommen, hatte wegen der Überlastung der Behörden aber erst am 27. September 2016 formal seinen Asylan- trag stellen können. Bereits am 30. Dezember erhielt er einen Ablehnungsbescheid. Jedoch beauftragte er einen Anwalt, im Januar 2017 umgehend Klage dagegen einzulegen. Dieses Verfahren lief noch. Für dessen Dauer bekam er eine Aufenthaltsgestattung. Wie kriminell war Ali B.? Aktenkundig ist eine angebliche Beteiligung an einer Schlägerei im April 2017, die ihm jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Es folgt die Anwesenheit bei einem weiteren Gewaltdelikt im Februar, das nicht aufgeklärt werden konnte. Im März soll er nachts eine Stadtpolizistin angerempelt und um sich geschlagen, drei Tage später einen Mann mit einem Messer bedroht und ausgeraubt haben – beide Ermittlungen laufen noch. Im April wurde er mit einem gefährlichen Messer erwischt, im Mai gehörte er zum Kreis der Verdächtigen einer Vergewaltigung eines elfjährigen Flüchtlingsmädchens. Auch hier fehlte bislang der Nachweis. Wie häufig werden Flüchtlinge Straftäter? Die Kriminalstatistik hält fest, dass im vergangenen Jahr 5,7 Millionen Straftaten registriert und 2,1 Millionen Tatverdächtige ermittelt wurden. Darunter befanden sich 300.680 „Zuwanderer“. Im Vorjahr waren es noch 506.641. Der Rückgang wird damit erklärt, dass es auch weniger unerlaubte Einreisen gab. In der Rubrik „Mord, Totschlag und Totschlag auf Verlangen“weist die Statistik 1558 deutsche und 1140 nichtdeutsche Tatverdächtige aus. Nur ein Teil davon sind Flüchtlinge. Soziologen verweisen darauf, dass Flüchtlinge im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung überproportional viele Straftaten begehen. Es gebe jedoch kaum Unterschiede, wenn man nur die Gruppe deutscher junger Männer mit der junger männlicher Flüchtlinge vergleiche. Wie hat sich die Zahl der Abschiebungen entwickelt? Von 2014 zu 2015 gab es fast eine Verdoppelung von 10.884 auf 20.888. Dann stieg die Zahl im Jahr 2016 jedoch nur auf 25.375 und ging im vergangenen Jahr sogar auf 23.966 zurück. Behördenvertreter erklären das damit, dass zunächst die relativ unproblematischen Fälle vom Balkan in großer Zahl abgewickelt werden konnten, dann jedoch die problematischen an der Reihe waren. Warum werden nicht Hunderttausende Flüchtlinge abgeschoben? Wenn im Schnitt jeder zweite Antrag erfolglos ist, müssten eigentlich allein von den 890.000 Flüchtlingen, die im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen sind, fast 450.000 wieder gehen. Viele tun dies auch auf eigene Faust oder mit Unterstützung durch staatliche Startprogramme. In den ersten vier Monaten dieses Jahres bekamen 1312 Antragsteller Asyl, 14.720 weitere den Flüchtlingsstatus, 10.639 subsidiären Schutz und 4973 eine AbschiebeSperre.
Bleiben darf auch, wer eine Schule besucht oder eine Ausbildung absolviert. In zehn bis 40 Prozent der Fälle sind zudem Klagen erfolgreich. Und in der Praxis tauchen viele Abzuschiebende einfach unter, wenn der Abschiebe-Termin naht. Seit dem verheerenden Bombenanschlag in Kabul nahe der deutschen Botschaft vor einem Jahr wurden nach Afghanistan nur noch Straftäter abgeschoben. Diese Einschränkungen sind nun aufgehoben; die SPD-geführten Länder wollen jedoch daran festhalten. Was will die Politik verändern? Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will Dienstag einen „Masterplan“vorstellen, um schnellere Verfahren und mehr Abschiebungen zu erzielen. Verständigt haben sich Union und SPD auf „Ankerzentren“, in denen Ankunft, Registrierung und Entscheidung konzentriert werden. Nur noch Flüchtlinge mit positiver Bleibeperspektive sollen dann aus diesen Zentren heraus auf Städte und Dörfer verteilt werden.
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