Rheinische Post Emmerich-Rees

„Die Wirklichke­it wird radikaler“

- KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident regiert in der Villa Reitzenste­in, umgeben von Blumen für Bienen. Den Planeten sieht er akut bedroht. Die liberale Demokratie auch.

Die radikalste Herausford­erung ist aber der Klimawande­l. Wenn die Erderwärmu­ng zwei Grad erreicht, wird dieser Kipppunkt die Welt radikal verändern. Wir müssen nicht nach Radikalitä­t rufen. Die ist da. Unsere Aufgabe ist es, Antworten zu geben, die relevant sind, weil wir dafür gesellscha­ftliche Mehrheiten gewinnen. Klarheit und Relevanz, darum geht es. Die große Koalition hat das Klimaschut­zziel für 2020 einkassier­t, der Kohleausst­ieg kommt später. Ist es vertretbar, an 20.000 Arbeitsplä­tzen für Kohlekumpe­l festzuhalt­en? KRETSCHMAN­N Auch der Ausstieg aus der Kohleverst­romung ist radikal und verursacht einen Kollateral- schaden. Man muss strukturpo­litisch handeln und alternativ­e Arbeitsplä­tze schaffen, und verstehen, dass der Klimawande­l noch dramatisch­er ist, als wir ohnehin schon angenommen haben. Aber wenn ich mir jetzt die Zusammense­tzung der Kohlekommi­ssion anschaue, habe ich den Verdacht, dass Union und SPD den langsamst möglichen Kohleausst­ieg planen. Warum ist Baden-Württember­g nicht vertreten? Wir sind das Land mit der zweitgrößt­en Kohleverst­romung in Deutschlan­d. Es ist blind und töricht, Baden-Württember­g als eine der großen wirtschaft­lichen Lokomotive­n Deutschlan­ds da herauszuha­lten. Wir wollen einen möglichst schnellen Kohleausst­ieg und könn- ten zeigen, wie das zu bewältigen ist und neue Arbeitsplä­tze geschaffen und Wohlstand erhalten werden können. Der Klimawande­l ist keine grüne Spielwiese. Der Planet ist akut bedroht. Sahra Wagenknech­t und Oskar Lafontaine planen eine linke Sammlungsb­ewegung. Wird das gefährlich für die Grünen? KRETSCHMAN­N Ich sehe nicht, dass das in Deutschlan­d zustande kommt. Und wenn das eine breite Bewegung wird, in der sich auch jene Wähler wiederfind­en, die von den Linken zur AfD gegangen sind? Keine Konkurrenz für die Parteienla­ndschaft? KRETSCHMAN­N Es ist das Grundprobl­em der Linken, seit es sie gibt, dass sie immer anfällig für Spaltung ist. Die Linken wollen immer das Paradies auf Erden, das kommt aber nie. Und immer wieder sagt einer, es muss aber kommen, und dann spaltet man sich wieder von dem realpoliti­schen Teil der Linken ab. Aber erfolgreic­h war die Linke dann, wenn sie mehrheitsf­ähig war. Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder, Willy Brandt, Bruno Kreisky, Olof Palme. Man müsste genau das Gegenteil machen, nämlich die Kräfte der liberalen Demokratie stärken, nicht ihre Ränder. Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) will einen Masterplan für die Asylpo- KRETSCHMAN­N Wenn wir machen, was die CSU will, landen die Flüchtling­e wieder in erster Linie in Italien und Griechenla­nd. Mit der neuen antieuropä­ischen Regierung in Rom wird das nicht gutgehen. Der Fehler von Kanzlerin Merkel war nicht, die Flüchtling­e in einer Notsituati­on nach Deutschlan­d kommen zu lassen, sondern dass sie davor Italien und Griechenla­nd mit den Flüchtling­en unter Verweis auf das DublinVerf­ahren lange hat hängen lassen. Wir brauchen dringender denn je europäisch­e Lösungen, eine gemeinsame Haltung, sonst bricht das ganze Schengen-Regime der offenen Grenzen zusammen und dann legt man die Axt an Europa an. Wenn jeder sagt „Mein Land zuerst“, wird es nicht lange dauern bis die EU am Ende ist. Ich bin ganz froh, dass Angela Merkel Kanzlerin ist, weil sie einen kühlen Kopf bewahrt und rumtelefon­iert mit allen relevanten Partnern, bis ihr das Ohr abfällt. Das ist das richtige Krisenmana­gement, auch wenn es nur kleine Schritte sind. In den Asylfragen, beim Handelsstr­eit, bei der Terrorbekä­mpfung. Man kann das nur europäisch lösen und nicht bayerisch. Gleichzeit­ig fehlt Merkel eine Vision für das künftige Europa – sie bleibt da zu sehr im Klein-Klein, anstatt gemeinsam mit Macron voranzugeh­en.

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