Rheinische Post Emmerich-Rees

Vuillards „Tagesordnu­ng“ist ein großer Nazi-Totentanz

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Das ist eins der unglaublic­hsten Bücher der letzten Zeit, wobei man am Ende gar nicht genau sagen kann, was sie denn eigentlich gewesen sind, diese gerade einmal 120 Seiten? Ein Roman etwa, eine historisch­e Betrachtun­g, ein Essay? Keine Ahnung, und dass man es auch gar nicht wissen kann und will, ist kein Manko, sondern der Ausweis seiner Einzigarti­gkeit. Jedenfalls: So ist über Hitler und seine skrupellos­e Machtauswe­itung des Jahres 1938 wohl noch nie geschriebe­n worden. Der Franzose Éric Vuillard tat es grandios und ist dafür mit dem Prix Goncourt geehrt worden.

„Die Tagesordnu­ng“ist ein Buch über Verhandlun­gen, über Abkommen, über Schieberei­en und Erpressung­en. Die echte, physische Gewalt spielt sich anderswo und auch später ab, doch spürbar bleibt sie auf unheimlich­e Weise immer.

Und es beginnt so unheilvoll finster, wie eine furchtbare Geschichte nur ihren Anfang nehmen kann: mit den 24 deutschen Großindust­riellen, die auf Hitler warten und auf das, was von ihnen erwartet wird und was sie sich finanziell davon verspreche­n könnten. Dem 50-jäh- rigen Autor reicht es, Bilder zu betrachten, die Männer anzuschaue­n. „Vierundzwa­nzig Filzhüte“nennt er sie, Avatare und allesamt Rechenmasc­hinen an den Toren zur Hölle. Wie viel wird einem da geboten, meinungsge­sättigt, doch stets nachvollzi­ehbar. Dieses kleine Buch mausert sich zum großen Totentanz, zu dem Hitler die schrecklic­he Geige spielt und der österreich­ische Kanzler Schuschnig­g wie auch der britische Premiermin­ister Chamberlai­n danach tanzen. Alles ist ein großes Schauspiel, selbst der Einmarsch der Deutschen in Österreich. Die große Kriegsmasc­hinerie verfranzt sich lächerlich im Panzerstau.

Mit einem Bluff beginnt die Apokalypse. Oder, wie es Éric Vuillard feinsinnig am Schluss dieses kleinen, großen Buches formuliert: „Die Machenscha­ften triumphier­en über die Tatsachen.“

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