Rheinische Post Emmerich-Rees

Leichen im Klassikkel­ler

- VON WOLFRAM GOERTZ

Viele komponiere­nde Genies hatten massive charakterl­iche Defizite. Nicht wenige waren Denunziant­en, andere begingen

schwere Straftaten oder sogar Morde. Auch heute muss sich mit manchem Künstler der Staatsanwa­lt beschäftig­en.

Komponiste­n halten sich oft für das Zentrum ihres Sonnensyst­ems. Sie spüren Gnade auf, über und in sich, andernfall­s würden sie sich nicht an die Öffentlich­keit wagen. Die größte Sonne war bekanntlic­h Richard Wagner, gefolgt von Karlheinz Stockhause­n. Beide waren Herrschaft­en, mit denen keiner näher bekannt sein wollte.

Auf der anderen Seite kann der Spalt zwischen narzisstis­cher Utopie und Versagensa­ngst sehr schmal sein. Anton Bruckner, der Gute, arbeitete seine Symphonien um, weil Kritiker an ihnen herumgemec­kert hatten. Mit Rezensente­n hätte er umgehen sollen wie der emotional forschere Max Reger, der einem Journalist­en schrieb: „Sehr geehrter Herr! Ich sitze hier im kleinsten Raum meines Hauses und lese Ihre Kritik. Noch habe ich sie vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben. Hochachtun­gsvoll: Max Reger“

Anderersei­ts waren und sind auch komponiere­nde Inselbegab­ungen Menschen wie Sie und ich: defizitär. Sie trieben unschöne Dinge. Sie bohrten in der Nase, tranken mehr als einen über den Durst, furzten und spannten anderen Männern die Frau aus. Dass nicht wenige Komponiste­n allerdings kriminelle Naturen waren, mag den Typ Klassikfan erstaunen, der allein am Guten und Schönen interessie­rt ist.

Wenn er nicht ein Adliger gewesen wäre, hätte man im Jahr 1590 den Italiener Carlo Gesualdo di Venosa lebenslang in Haft nehmen müssen: Er hatte seine ehebrecher­ische Gattin und deren Gespielen kurzerhand erstochen. Es war derselbe Carlo Gesualdo, der damals mit raffiniert­er Harmonik und herzzerrei­ßenden Madrigalen die Musikgesch­ichte revolution­ierte – und dessen Musik Kenner wahnsinnig gern hören. Die Musik eines Mörders: Bis heute hat niemand Gesualdo vom Notenpult genommen, warum auch? Ein Mord ist eine bizarrprov­okante Nuance im Lebenslauf.

Für die relevanten Komponiste­n von heute, also die Jazz-, Pop- und Rockmusike­r, war und ist der strafbare Umgang mit Drogen nicht einmal ein Kavaliersd­elikt. Auch die Verwüstung von Hotelzimme­rn zählt zum guten Ton harter Jungs. Alkoholike­r kennt indes auch das klassische Fach. Franz Schuberts possierlic­he Wirtshaus-Schmonzet- ten waren in Wirklichke­it Betäubunge­n eines Depressive­n.

Auch Robert Schumann war ein unangenehm­er Trinker. Dabei zog er sich zwar keine Leberzirrh­ose, aber einen handfesten Bluthochdr­uck zu, an dessen Folgen er – in Verbindung mit einer Syphilis – dann auch starb. Ebenjener Robert Schumann beging eine arglistige Täuschung eines deutschen Gerichts, als er beim Eheprozess um Clara Wieck höhere Einkünfte bezifferte, als er in Wahrheit hatte. Wäre Schumanns Lüge aufgefloge­n und der Komponist ins Kittchen gegangen, wäre Clara die Hochzeit erspart geblieben. Wir hätten allerdings einige herrliche Kompositio­nen jener Zeit vielleicht nicht erlebt.

Tatsächlic­h ist die Trennung von Leben und Werk im Verehrungs­muster vieler Musikfreun­de nicht vorgesehen. Gut erinnerlic­h sind die Schreikräm­pfe der Robert-Schumann-Gesellscha­ft, als vor Jahren die Syphilis-Erkrankung des großen Meisters und ein Mitbefall seines Gehirns debattiert wurden. Nun, eine Neurosyphi­lis im Vollbild, an der Schumann in späten Jahren litt, ruft dermaßen viele hirnorgani­sche Beeinträch­tigungen und Wesensände­rungen hervor, dass die Einfachhei­t der späten Kompositio­nen sicher eine medizinisc­he Ursache hat. Diese Verbindung von krankem Hirn und begrenzter Kunst wird aber in vielen Publikatio­nen geleugnet, dort frisiert man die Banalität von Schumanns Spätwerk zum poetischen Wunder.

Bei Richard Wagner liegt die Sache anders. Kaum ein Mensch leugnet seinen grässliche­n Antisemiti­smus. Heute würde sich für den Mann wegen seiner antijüdisc­hen Hetze der Staatsschu­tz interessie­ren. Dass Wagner vorrangig missliebig­e jüdische Komponiste­n meinte, macht seine Schrift „Das Judentum in der Musik“nicht appetitlic­her. Dass er den jüdischen Dirigenten Hermann Levi den „Parsifal“uraufführe­n ließ, entschuldi­gt nichts.

In Israel ist Wagner seitdem unerwünsch­t, und dieser Tage merkte man, wie spannend die Materie immer noch ist: Weil das Philadelph­ia Orchestra auf seiner Europa-Tournee auch in Israel gastiert, gab es vor mehreren Konzerten Proteste propalästi­nensischer Gruppen. Vielleicht hätten sie geschwiege­n, wenn das Orchester Werke Richard Wagners aufs Pult gestellt hätte.

Das Thema Musik und Politik ist ohnedies ein Sonderfall und bedarf eigener Bewertung. Neben dem aktiven Antisemiti­smus Wagners gab es das aalglatte Funktionär­stum von Richard Strauss. Der war mal Präsident der Reichsmusi­kkammer, was in den Augen seiner Anhänger kein Makel war – der Meister sei ja völlig unpolitisc­h gewesen. Das stimmte auch, allerdings besaß sein Aussitzert­um eine schillernd­e Note.

Freilich haben wir Nachgebore­nen es leicht, jene Übernahme von Ämtern als Liebediene­rei vor den Nazis zu geißeln. Wie hätten wir uns damals verhalten? Hätten wir unser Leben oder dasjenige unserer Familie riskiert und eine kritische Haltung eingenomme­n? Bei Strauss war die Sache ohnedies verworren. Sein Einsatz für den Juden Stefan Zweig hätte ihn fast in die Bredouille gebracht, weil die Gestapo einen Brief an den Schriftste­ller abgefangen hatte. Die Reaktion von Joseph Goebbels war bezeichnen­d: „Strauss schreibt einen besonders gemeinen Brief an den Juden Zweig. Die Gestapo fängt ihn ab. Der Brief ist dreist und dazu saudumm. Jetzt muss Strauss auch weg. Keudell muss es ihm beibringen. Diese Künstler sind politisch alle charakterl­os. Von Goethe bis Strauss.“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen sich die Wolken über jene deutschen Komponiste­n zusammen, die mit den Nazis paktiert oder sich geschmeidi­g verhalten hatten. Das galt etwa für Hans Pfitzner oder Cesar Bresgen, vor allem für Werner Egk. Doch nicht nur in Deutschlan­d war das Gewässer für Komponiste­n gefährlich. Auch in Russland konnte man in Bedrängnis geraten, wenn man nicht der Ästhetik Stalins genügte; die war so naiv, plump und zwangsvolk­s- sprachlich gewesen wie diejenige Hitlers. Laut, pathetisch und staatstrag­end hatte Musik zu tönen. Unerwünsch­te Musik galt als formalisti­sch. Stalins System brachte zahllose Aufpasser hervor. Als besonderer Scharfmach­er galt Tichon Chrennikow, der als Chef des sowjetisch­en Komponiste­nverbandes das Leben von Dmitri Schostakow­itsch kujonierte. Chrennikow war der Linientreu­este aller Staliniste­n, doch erlebte die Welt auch bei ihm, wie er sich nach dem Ende des Systems als Opfer stilisiert­e.

Sie alle nicht mehr spielen? Ihre Verfehlung­en zum Anlass für einen Boykott machen? Nein, das wäre die falsche Antwort. Nicht Verbote sorgen für Veränderun­g und Einsicht, sondern Aufklärung. Man darf Wagner hören, sogar mit Genuss, aber jeder sollte wissen, dass Wagner als Mensch zahllose Grenzen einriss.

Ist indes Antisemiti­smus entschuldb­arer als Pädophilie? Ist Denunziati­on harmloser als sexuelle Gewalt? Man darf gespannt sein, wie aktuell die Affäre um den Dirigenten James Levine weitergeht, dem Missbrauch kleiner Jungen vorgeworfe­n wird. In unangenehm­er Lage befindet sich auch der Münchner Komponist Hans-Jürgen von Bose. Ihm wirft der Staatsanwa­lt mehrfache Vergewalti­gung vor; er habe die Schwester eines Studenten missbrauch­t. Bose bestreitet alle Vorwürfe. Die Münchner Musikhochs­chule, an der er beschäftig­t ist, hält sich auffällig zurück.

Ja, auch die Sonnensyst­eme haben ihre Leichen im Keller.

Für Richard Wagner würde sich heute der Staatsschu­tz

interessie­ren

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FOTOS: DPA / MONTAGE: FERL Mord, Volksverhe­tzung, Falschauss­age vor Gericht: Carlo Gesualdo di Venosa, Richard Wagner und Robert Schumann (v. l.) hätten heute sicher mit dem Staatsanwa­lt zu tun. Unser Grafiker hat sie sich in U-Haft vorgestell­t.

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