SINA NITZSCHE Hip-Hop als Wissenschaft
Die Forscherin hat an der Technischen Universität Dortmund ein europäisches Hip-Hop-Netzwerk gegründet.
Mehr als nur Gangsta-Rap: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Hip-Hop-Kultur hat sich an vielen Universitäten in Europa zu einem wichtigen Bereich entwickelt. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen versuchen aus dieser Popkultur wichtige gesellschaftliche und kulturelle Erkenntnisse zu gewinnen. Eine von ihnen ist Sina Nitzsche. Sie gründete im März an der TU Dortmund das europäische Hip-Hop-Studies-Netzwerk. Hip-Hop-Studies, was ist das für ein Forschungsfeld? NITZSCHE Hip-Hop-Studies beschäftigen sich mit der Hip-Hop-Kultur und ihren vier Kernelementen Rap, DJ-ing, MC-ing, Graffiti und Tanz. Ich persönlich forsche zum Beispiel über „Hip-Hop-Education“, also über die Rolle der Hip-Hop-Kultur in der Bildung und ihre Institutionalisierung an der Universität. HipHop-Studies speisen sich aus verschiedenen Disziplinen. Als Forschungsfeld sind sie vor allem interdisziplinär. Auf Konferenzen gibt es Soziologen, Musikwissenschaftler, Ethnografen, Juristen, Medienwissenschaftler und Philologen. Ein wichtiger Teil sind auch Künstler, Street Worker, Produzenten, Tänzer. Warum haben Sie das Netzwerk gegründet, und was ist Ihr Ziel? NITZSCHE Wenn man in den amerikanischen Diskurs schaut, gibt es den Begriff Hip-Hop-Studies schon seit den 1990er Jahren. In Deutschland wird er weniger verwendet. Forscher identifizieren sich oft zuerst über ihre Fachdisziplin und dann als HipHop-Studies-Wissenschaftler. Als ich mich vor zwei Jahren als HipHop-Wissenschaftlerin „geoutet“habe, habe ich gemerkt, dass es vielleicht Zeit ist, das Feld der Hip-HopStudies in den öffentlichen Diskurs zu rücken. Mit dem European HipHop-Studies-Netzwerk wollen wir das Bewusstsein für dieses Forschungsfeld schärfen. Das Netzwerk soll einen Austausch zwischen Wissenschaftlern, Künstlern und Praktikern in Europa fördern. Ist es im Sinne der Hip-Hop-Szene, Gegenstand von Wissenschaft zu sein? NITZSCHE Nun ja, einen ähnlichen Prozess hat man bei der Jazz-Musik gesehen, der anderen populären „schwarzen“Musikkultur des 20. Jahrhunderts. Irgendwann hat sie sich abgekoppelt von der Jugendkultur, und heute trifft man auf JazzKonzerten tendenziell ältere Leute. Auch wenn wir das Netzwerk offen und flexibel halten wollen, sollte man sich der Gefahr bewusst sein und respektvoll bleiben gegenüber den Künstlern, um Hip-Hop weiterhin als organisches Gebilde zu kultivieren. Damit nicht irgendwann nur noch das Bildungsbürgertum hochbetagt über Hip-Hop redet. Wie unterrichten Sie? NITZSCHE Aus der Perspektive der Kulturwissenschaften. Wir analysieren Texte, Videos, Lyrics, Filme. Ich setze die Schwerpunkte, letztes Jahr habe ich einen Kurs zur HipHop-Kultur im Ruhrgebiet angeboten. Dieses Jahr unterrichte ich ein Seminar, in dem wir uns mit Teilaspekten der Hip-Hop-Kultur beschäftigen, also mit Geschlechterverhältnissen, Genres, Fragen der kulturellen Aneignung. Wir treffen auch lokale Künstler. In der Debatte um antisemitische Zeilen auf dem Album der Echo-Gewinner Farid Bang und Kollegah wurden Sie mehrfach um eine Ein- schätzung gebeten.Wie ist Ihre Meinung? NITZSCHE Der Diskurs war sehr polarisiert. Auf der einen Seite steht das Argument, dass die Definition des Gangsta-Raps nun mal Grenzüberschreitung ist. Aus der Genre-Perspektive kann ich verstehen, dass es Rapper gibt, die das verteidigen. Aber ich kann auch verstehen, wenn es verurteilt wird. Hip-Hop, auch Gangsta-Rap, ist ein Mikro-Kosmos der Gesellschaft. Die Rapper haben die antisemitischen Tendenzen aufgegriffen und vermarktet. Und zwar nicht nur in dem Bonus-Track, sondern auch in anderen Liedern. Diese Vermarktungsstrategie ist profan, aber im Sinne der Inszenierung clever. Das Problem des Antisemitismus ist allerdings ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wie sieht die Wissenschaft denn das Aggressionspotenzial des Hip-Hops? NITZSCHE Hip-Hop ist nicht gleich Hip-Hop, es gibt viele Genres, die ich nicht mal kenne. Nur einige zeichnen sich durch Grenzüberschreitung aus. Aber die Idee des Wettbewerbs ist ein Kernelement des Hip-Hops. Sie meint aber das friedliche gegenseitige Herausfordern. Der gewaltverherrlichende Gangsta-Rap ist nur ein Teil der Kultur, der am meisten kommerziell ausgebeutet wird. Kendrick Lamar, einer der besten Rapper, erhielt den renommierten Pulitzer-Preis, zur gleichen Zeit wie Kollegah und Farid Bang den Echo. Als Hip-Hop-Künstler! In den Medien ist das völlig untergegangen, nur in ein oder zwei Interviews wurde ich dazu befragt. Das zeigt, dass das Konzept des Gangsta-Raps aufgeht, weil es vorhandene kulturelle Stereotypen bedient. Die Leute denken: „Ja, das ist er, der Gangsta-Rap, die bösen Jungs.“ Warum ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Hip-Hop so wichtig? NITZSCHE Weil es die wahrscheinlich wichtigste Jugendkultur der Welt ist und wir unsere Kultur ohne HipHop nicht verstehen können. HipHop ist in den letzten 40 Jahren so eine kulturelle Kraft geworden, die man nicht ignorieren darf. Wenn man die zeitgenössische Kultur verstehen will, dann kommt man daran nicht vorbei.