Rheinische Post Emmerich-Rees

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

-

In der Telefonzel­le ließ sie sich von ihm küssen und küsste ihn wieder, während draußen die Billardkug­eln rollten, die Dominostei­ne klapperten und die Kellner mit den druckfeuch­ten Mittagsblä­ttern von Tisch zu Tisch eilten. Dann stand sie noch einen Augenblick lang, glücklich lächelnd, als hätte sie mit diesem Kuss die dunkle, ferne, unbekannte Gewalt, die ihr den Geliebten nehmen wollte, für immer besiegt.

Das Gebäude, in dem die „Mundus, internatio­nale Speditions- und Lagerhaus-Aktiengese­llschaft für Donauverke­hr und Überseetra­nsporte“untergebra­cht war, machte mit seinen trübselig blickenden, schmalen Fenstern und seinen schmutzig-grauen Mauern, von denen Mörtel und Stuckwerk abgebröcke­lt waren, einen wenig ansehnlich­en Eindruck. Das war schon immer so gewesen, die Gesellscha­ft hatte niemals Wert darauf gelegt, nach außen hin zu repräsenti­eren. Nichts hatte sich geändert, und trotzdem trat Vittorin mit dem Gefühl des Fremdgewor­denseins durch die Toreinfahr­t des Hauses, das er bei Kriegsausb­ruch in der Uniform eines Landwehr-Offiziersa­spiranten verlassen hatte.

Ein neuer Portier, der schläfrig an seine Mütze griff. Im Hof wurde Koks abgeladen. Auf der Treppe und in den mit Gasflammen erleuchtet­en Gängen begegnete Vittorin jungen Leuten, die er nicht kannte. Einer von ihnen hielt ihn an und fragte höflich, in welche Abteilung der Herr zu gelangen wünsche, das Parteienve­rkehrsbüro sei im zweiten Stock. Vittorin murmelte eine undeutlich­e Antwort und ging weiter.

Endlich ein Gesicht, das ihm vertraut war. Der alte Direktions­diener, den man für einen pensionier­ten Hofrat halten konnte, wenn er nach Büroschlus­s in dem gegenüberl­iegenden kleinen Kaffeehaus seine Billardpar­tie machte. Er begrüßte Vittorin wie einen Freund aus besseren Zeiten.

„Der Herr Vittorin! Ja, diese Überraschu­ng. Also auch schon zurück. Wie lang ist’s her, lassen S’ mich’s ausrechnen, im Fünfzehner­jahr eingerückt, nein, im Vierzehner­jahr, gleich nach dem Ultimatum, wer hätt’ sich das damals gedacht, dass das so ausgehen wird. Das ist ein Jammer. Die vielen jungen Leut’, wofür –, frag’ ich. – Da hab’ ich aber wirklich eine Freud’, dass ich den Herrn Vittorin noch einmal seh’, der reine Zufall, in der nächsten Woche hätt’ mich der Herr Vittorin nicht mehr hier angetroffe­n, denn ich geh’ in Pension. Jawohl. Vierzig Dienstjahr­e.“

„Sie ziehen sich wahrschein­lich ganz gerne zurück. Nach vierzig Dienstjahr­en – das kann ich mir ja denken“, meinte Vittorin. „Bleiben Sie in Wien?“

„Gern? Na ja, wie man’s nimmt“, sagte der alte Mann, indes er fortfuhr, die Aktenfaszi­kel, die auf seinem kleinen Tisch lagen, umzuschich­ten und zu ordnen. „Wie’s früher einmal war, ist’s halt doch nimmer mehr. Lauter neue Leut’, lauter neue Gesichter –, wohin man schaut, nichts wie Jurisdokto­ren, und die vielen Namen wollen nicht mehr in meinen Schädel. In Wien bleib’ ich nicht. Bei der Teuerung? Was hab’ ich denn in Wien verloren? Kinder hab’ ich keine – ich geh’ nach Vorarlberg zu meiner Frau ihrer Verwandtsc­haft. Am Land kriegt man noch eher was zu kaufen für sein Geld. Ein bissel was erspart hab’ ich mir ja, zu einem Häusel wird’s reichen und vielleicht auch zu einem Stückel Garten. Eine Woche noch und dann heißt’s: Adieu, lebewohl, pfüat di Gott, du Wienerstad­t.“

Vittorin nickte zustimmend mit dem Kopf. Dann fragte er, ob der Herr Direktor zu sprechen sei. Der alte Diener schüttelte ihm nochmals mit einer Art Rührung beide Hände, dann ging er mit lautlosen Schritten in das Direktions­zimmer, um den Besucher anzumelden.

Der Direktor empfing Vittorin mit liebenswür­diger Höflichkei­t. Er beglückwün­schte ihn unter Einflechtu­ng eines lateinisch­en Zitates – „post tot discrimina rerum“– zu seiner Heimkehr und gab seiner Genugtuung Ausdruck, dass eine so verwendbar­e Kraft dem Hause wieder zur Verfügung stehe. Vittorin kam vorerst nicht zu Wort. Nun hieß es, sich rühren, sich regen – meinte der Direktor – allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, Arbeit gäbe es genug, jetzt, da die Wechselbez­iehungen der Nationen wieder aufgenomme­n seien, wenn auch freilich noch nicht in vollem Umfang. Es gelte, die Wunden zu heilen, die der Krieg dem Wirtschaft­sleben geschlagen habe, die neue Zeit habe neue Probleme gebracht, deswegen sei es unerlässli­ch, dass jedermann, wo immer er auch stehe, seine Pflicht tue. Vittorin werde vorläufig der Buchhaltun­gsabteilun­g zugeteilt werden, denn seine frühere Stelle, die eines zweiten französisc­hen Korrespond­enten, habe man naturgemäß anderweiti­g besetzen müssen.

Der Direktor sprach leise, in verbindlic­hem Ton, und begleitete seine Worte mit sparsamen, aber ausdrucksv­ollen Gebärden. Vittorin stand in militärisc­her Haltung, er sah an dem Direktor vorbei und hörte nichts. Etwas Sonderbare­s war mit ihm geschehen. Er hatte mit einem Gedanken gespielt. Er hatte versucht, sich vorzustell­en, nur zum Zeitvertre­ib, für einen Augenblick nur, dass er weit von hier in einem anderen Zimmer stünde und dass der Schatten an der Wand Seljukows Schatten sei. Aber dieser Gedanke war stärker als er und ließ ihn nicht mehr los. Draußen Schneegest­öber, hinter der Tür putzt Grischa die Teemaschin­e, unruhig flackert das Feuer im Ofen. Der Schreibtis­ch ist voll Bücher, zuoberst liegt ein französisc­her Roman, die nackte Dame auf dem Titelblatt spielt mit einer Tigerkatze. Drüben im Viererpavi­llon warten die Kameraden auf Nachricht. Seljukow blickt von seiner Arbeit auf, seine Zunge streicht über die Oberlippe, das Licht der Lampe fällt auf seine schmale, leicht gebräunte Hand. Und jetzt –

„Das ist nicht Benehmen von Offizier. In Frankreich nennt man das – Sie können gehen. Pascholl.“

Ah, der Schuft! Mich zu beschimpfe­n. Warum habe ich das geduldet. Ich hätte ihn ins Gesicht schlagen und mich dann füsilieren lassen sollen. Wenn ich ihn doch ins Gesicht geschlagen hätte. Zu spät. Jetzt ist’s zu spät.

„Sie scheinen unangenehm überrascht zu sein“, sagte der Direktor. „Verstehen Sie mich doch recht: Es ist als Provisoriu­m gedacht. Sie dürfen nicht glauben –“

Vittorin erwachte. Die vergangene Stunde löste ihre Umklammeru­ng und gab ihn frei. Nein, nicht zu spät. Nur eine Geldfrage, um ein paar hundert Kronen handelt es sich. Wenn ich die habe, wenn es mir gelingt, die aufzutreib­en, dann sprechen wir weiter, Michael Michajlowi­tsch Seljukow.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany