Ein Pferdesport für Multitalente
Die Übungen sehen halsbrecherisch aus und spiegeln Leichtigkeit und Harmonie wider: Voltigieren ist mehr als Turnen auf einer „beweglichen Matte“.
Voltigieren, das ist wie eine Sucht. „Wer einmal anfängt, der hört so schnell nicht wieder auf“, da sind sich Evelyn Oermann und Iris Thome vom Reit- und Fahrverein Hilden einig. Kein Wunder also, dass zurzeit etwa 100 Kinder auf der Warteliste stehen, um irgendwann einen der begehrten Plätze in einer der drei Einsteigergruppen zu ergattern. Viele Kinder, vor allem Mädchen, suchen so den ersten Kontakt zu den Pferden. Mit Reiten hat das Voltigieren allerdings nur wenig zu tun. Gerade durch das dicke Pad, der Decke unter dem Voltigiergurt, ist der Kontakt zum Pferderücken eher gering. Zudem nimmt der Voltigierer keinen Einfluss auf das Pferd. „Das ist Turnen“, sagt Oermann. Sozusagen auf einer „beweglichen Matte“.
Viele Reiter haben jedoch mal als Voltigierer angefangen – eine bessere Schulung für einen aufrechten und unabhängigen Sitz gibt es kaum. Manche Voltigierer hatten aber auch nie das Bedürfnis, Reiten auszuprobieren. So wie Iris Thome. Die Jugendwartin springt bis heute immer mal bei Turnieren ein, wenn es eng wird. „Zum Glück wurde das Höchstalter bei Voltigierern gestrichen“, sagt sie. Ab sechs Jahren können Kinder in Hilden den Sport erlernen, bei Schnupperkursen in den Ferien dürfen auch schon Fünfjährige auf den Pferderücken.
Als Biologin ist Evelyn Oermann für das Spezialfutter der drei Voltigierpferde zuständig. „Das sind Hochleistungssport- ler“, betont sie. Nicht nur, dass sie oft lange Phasen gleichmäßig und taktrein durchgaloppieren müssen. Sie brauchen einen starken und gesunden Rücken, ein gutes Gebäude und Nerven wie Drahtseile. „Ein gutes Reitpferd ist auch ein gutes Voltigierpferd“, sagt Iris Thome. Zusätzlich zum Turnen auf dem echten Pferd, trainieren Voltigierer viel auf dem Holzpferd, auch Bock genannt. „Wir können hier perfekt die Übungen erarbeiten, können über taktile Reize korrigieren, Auf- und Abgänge vom Pferd üben“, erläutert Thome.
Einsteiger lernen als Erstes den Grundsitz: Schulter, Hüfte und Fußgelenk sollen dabei eine Linie bilden. „Dennoch muss der Voltigierer eine Lo- ckerheit behalten, er darf nicht in den Stuhlsitz verfallen“, erläutert Oermann. Die Trainer nutzen zur Veranschaulichung folgendes Bild: Oben zieht einer an den Haaren, unten hängen Gewichte an den Füßen. Später kommen dann einfache Übungen wie Fahne, Knien auf dem Pferd, Innen- und Außensitz hinzu. Die jungen Voltigierer machen das meist noch im Schritt. Turniersportler absolvieren sowohl einen Pflicht- als auch einen Kür-Teil auf dem galoppierenden Pferd.
Voltigieren trainiert die Beweglichkeit, Ausdauer, Kraft, Koordination und Balance. Aber auch kognitive Fähigkeiten wie Teamgeist, Selbstbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein lernen die Kinder im Umgang mit dem Pferd und den anderen Voltigierern. Iris Thome hat schon wahre Verwandlungen miterlebt. „Ich erinnere mich da an ein Kind aus dem Anfängerbereich, das wahnsinnig schüchtern war. Heute ist sie eine ausdrucksstarke Voltigiererin und hat unglaublich an Selbstbewusstsein dazu gewonnen“, erzählt sie. Oermann ergänzt: „Zappelige Kinder werden die Ruhe selbst. Kinder mit Koordinationsschwierigkeiten sind nach einer Weile Gymnastiktalente.“Voltigieren ist wie Reiten ein Sport mit dem Pferd: Das Putzen und Fertigmachen gehört ebenso dazu wie ein Grundwissen rund um die Vierbeiner. Im Laufe der Einsteigerkurse machen die Kinder auch die ersten Abzeichen, sogenannte Motivationsabzeichen wie das „Steckenpferd“und das „Kleine Hufeisen“.
Nicht nur im Turnierbereich sind übrigens auch Jungen und Männer gerne gesehen: Bei Hebefiguren in den Kürteilen haben sie oft deutlich mehr Kraft. „Ein Junge hat hier mal mit sechs Jahren angefangen und weitergemacht, bis er 26 Jahre alt war“, erinnert sich Evelyn Oermann. Aufgehört hat er dann nur, weil er als Feuerwehrmann keine Zeit mehr hatte. Voltigieren, das ist viel mehr als nur Turnen auf dem Pferd, sind sich die beiden Frauen einig. „Jeder turnt für sich, aber trotzdem mit dem Pferd“, erläutert Thome, „Das hat immer etwas Spielerisches. Der Voltigierer ist auch Schauspieler und Akrobat.“Ein echtes Multitalent eben.