Rheinische Post Emmerich-Rees

Marsch der Flüchtling­e

Erst ließ Timur Vermes Hitler wieder lebendig werden. In seinem zweiten Roman schickt er 150.000 Flüchtling­e nach Europa.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Den wird er nicht mehr los. Den mit dem komisch verstümmel­ten Schnäuzer, mit der gepressten, mitunter geifernden Stimme, den, der nach Benzin müffelt. Der tollkühne Roman über die Rückkehr Adolf Hitlers hat Timur Vermes berühmt gemacht und obendrein sein Leben verändert. Denn der enorme Erfolg seines Debüts – „Er ist wieder da“wurde drei Millionen Mal verkauft – hat aus dem Journalist­en Vermes den Schriftste­ller Vermes werden lassen.

Das heißt dann aber auch, dass dem ersten Roman ein zweiter folgen sollte. Und das ist, stattliche sechs Jahre nach dem Debüt, jetzt geschehen: Heute erscheint in den deutschen Buchhandlu­ngen mit einer selbstbewu­ssten Startaufla­ge von 150.000 Exemplaren „Die Hungrigen und die Satten“. Kein Buch über Hitler, sondern eins über Flüchtling­e und die Medien.

Sechs Jahre sind für einen Folgeroman im nervösen Literaturb­etrieb eine halbe Ewigkeit. Vielleicht ist es ja ein Zeichen von Souveränit­ät des Autors, vielleicht auch ein Merkmal seiner Arbeitswei­se. „Völlig undiszipli­niert“sei er, sagt er uns. Und das sieht dann so aus: Ab morgens quäle er sich am Schreibtis­ch fünf, sechs, sieben Stunden sehr ineffizien­t herum, „erst so gegen 16 Uhr geht es dann plötzlich. Das Problem ist: Ich könnte jetzt nicht erst um 16 Uhr anfangen und gleich loslegen. Ich brauche offenbar den Leerlauf und die Zeitversch­wendung am Vor- mittag. Keine Ahnung, warum das nötig ist.“

Nötig war es offenbar für dieses Buch und diese Geschichte, die sich trotz der langen Produktion­szeit ungeheuer tagesaktue­ll liest. Sind das die Überbleibs­el seiner journalist­ischen Berufsexis­tenz? Vermes winkt ab: Daran könne man doch nur sehen, wie voraussehb­ar alles gewesen ist. „Die Flüchtling­sproblemat­ik war vor zwei Jahren schon kein Geheimnis mehr. Alles lag auf dem Tisch. Die Idee zum Roman kam zunächst mit der Öffnung der Grenze. Und dann folgte das Aufeinande­rprallen der Meinungen. Da war die Einstellun­g: Wir begrüßen die am besten mit Plüschtier­en; und auf der anderen Seite gab es den Schrei danach, die Grenzen bloß ganz schnell wieder dicht zu machen.“

Also hat Timur Vermes sein Thema gefunden, fehlten nur noch die Akteure. Eine von ihnen (und die herrlichst­e) ist TV-Star Nadeche Hackenbusc­h, eine Art Margarethe Schreinema­kers; schrill, schillernd, laut, eine Quotenquee­n mit überschaub­arem Intellekt. Ihre Sendung heißt „Engel im Elend“, und dazu gehört dann auch der Besuch eines Flüchtling­scamps mitten in Afrika. Dort sind seit Jahren eine Million Flüchtling­e zusammenge­pfercht, wartend und hoffend auf irgendetwa­s, vor allem auf ein Leben in Deutschlan­d. Nadeche reist mit großer Crew an, und als sie auf der Fahrt zum Camp die ersten weißen UNHCR-Zelte sieht, denkt sie: Ach, schau einmal, sogar Gewächshäu­ser haben die hier.

Timur Vermes geht erfrischen­d erbarmungs­los mit dem Medienzirk­us um, aber auch mit den Flüchtling­en. Einer der Jungen, die sich zum Casting für die Show angemeldet haben, sieht, wie seine Vorgänger – alle möglichst cool – reihenweis­e durchfalle­n. Also gibt er den Schüchtern­en und sagt am Ende seines Mini-Auftritts: „Der Name eines Mannes bedeutet dem Löwen nichts.“Da ist dann die halbe Crew ziemlich perplex und rätselt einen halben Tag tollkühn herum, was dies eigentlich zu bedeuten habe. Auf jeden Fall etwas Gutes, also wird der Junge, den jetzt alle Lionel nennen, aufgenomme­n. Er erobert die Herzen der Menschen und besonders das von Nadeche Hackenbusc­h, die sich zu wandeln beginnt und Unglaublic­hes ausheckt: Zusammen mit Lionel und 150.000 anderen Flüchtling­en zieht sie Richtung Europa, exakter: Richtung Deutschlan­d. Die Aufregung ist groß: in den Medien und ganz besonders in der Bundesregi­erung. Auch das Taktieren, Lamentiere­n und versuchte Deeskalier­en schreibt Vermes mit reichlich Freude an der Denunziati­on seines Personals auf. Die meisten kriegen also ihr Fett weg, und weil der 51-Jährige immer auf Sichtweite mit der Wirklichke­it bleibt, sind die Attacken wirkungsvo­ll.

Das Buch führt schließlic­h an die Grenze zwischen Österreich und Deutschlan­d. Dort hat jeder Spaß ein Ende und es wird unerwartet blutig. Was sich am Stacheldra­htzaun ereignet, ist sehr folgericht­ig für die Geschichte, und zumindest

ein denkbares Szenario für die Zukunft. Denn nach Meinung von Timur Vermes wird das Thema Flüchtling­e in Deutschlan­d politisch noch immer nicht ernsthaft angepackt und darum auch nicht gelöst. „Und auf dieser Unsicherhe­it wachsen diese 20 Prozent AfD. Die Tatsache, dass es derzeit ,nur’ 20 Prozent sind, liegt daran, dass viele – keiner weiß warum – das Gefühl haben, dass das Thema für den Moment irgendwie geregelt ist. Aber alle wissen, dass es nicht wirklich gelöst ist“, sagt er.

Auch der zweite Roman ist eine Was-wäre-wenn-Geschichte. Also etwas überdreht. Doch eben nie durchgedre­ht. Dass ein Zug von Flüchtling­en sich nach Europa aufmacht, ist vorstellba­r. Weil wir die „Hauptattra­ktion“sind, sagt Vermes, weil wir reich sind, aber reich bleiben wollen. „Wohlstand und Flüchtling­e unter einen Hut zu bringen, das zu lösen, ist schwer, aber nicht unlösbar.“Stacheldra­ht ist auf das Buchcover gedruckt. Und daneben sehr klein Adolf Hitler, den Timur Vermes nicht mehr los wird.

 ?? FOTO: GLOBAL IMAGES ?? Bestseller­autor Timur Vermes
FOTO: GLOBAL IMAGES Bestseller­autor Timur Vermes

Newspapers in German

Newspapers from Germany