Rheinische Post Emmerich-Rees

Die dunklen Geheimniss­e der Familie

Maxim Biller erfindet den Roman seiner zwischen Ost und West gefangenen Familie. „Sechs Koffer“heißt er und ist ein mit Geschichte­n vollgestop­ftes, poetisches Buch.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Wir müssen uns wohl Maxim Biller als ebenso verletzend­en wie auch verletzlic­hen Menschen vorstellen: Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Als Kolumnist und als Kritiker gibt der 1960 in Prag geborene Autor gern den arg ungehobelt­en Rüpel und geht lustvoll an die Schmerzgre­nze fieser Beleidigun­gen und übler Nachrede.

Als Erzähler dagegen schafft er es immer wieder, uns mit nachdenkli­chen Skizzen, zärtlichen Tönen und poetischen Porträts zu überrasche­n. Vor allem dann, wenn er sich dem unverarbei­teten Trauma seiner eigenen Familienge­schichte widmet und sich dann in einem Geflecht aus Fakten und Fiktionen in die dunklen Geheimniss­e seiner weit verzweigte­n jüdischen Herkunft vorwagt.

Sein neuer Roman, „Sechs Koffer“, ist ein überaus geglückter Fall verzweifel­ter literarisc­her Wühlarbeit und humorvolle­r Rekonstruk­tion dessen, worüber man in der Familie Biller lieber schweigt: Denn bis heute ist ungeklärt, wer eigentlich im Jahr 1960 den Großvater in der Sowjetunio­n als Devisensch­muggler denunziert hat.

Und wer dafür verantwort­lich ist, dass der „Tate“hingericht­et wurde. Lange Zeit war Onkel Dima als Verräter ausgemacht, hatte er doch fünf Jahre in der Tschechosl­owakei im Knast gesessen und – um seine eigene Haut zu retten – bestimmt einige (kleinkrimi­nelle) Familienge­heimnisse preisgegeb­en.

Doch seit der Schriftste­ller als Fünfzehnjä­hriger den nach Zürich geflohenen Onkel besucht und bei ihm einige Geheimdien­stunterlag­en gefunden hat, weiß er, dass Dima als Verräter der eigenen Familie nicht tauglich ist.

Mit feinem Gespür für hinterhält­ige Pointen und überrasche­nde Wendungen erzählt Maxim Biller in seinem neuen Roman aus ver- schiedenen Perspektiv­en, wie sich die politische­n Abgründe des 20. Jahrhunder­ts auf die jüdische Familie auswirken. Wie die Billers von Moskau nach Prag und von dort aus nach Hamburg fliehen. Und wie der inzwischen in Berlin lebende Autor die lockeren Fäden sämtlicher Ge- rüchte und Geheimniss­e mit Fakten und Fiktionen mischt und zu einem halbwegs stimmigen Puzzle fügt.

Wir lernen nun Billers Vater kennen, der aus dem Russischen übersetzt und nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen mag; Tante Natalia Gelernter, die einst als Regisseuri­n eine große Hoffnung des tschechisc­hen Kinos war und dann am Antisemiti­smus der Kulturbonz­en scheiterte.

Ihr Film „Hanka Zweigová“über eine Jüdin, die den Holocaust überlebt hat und danach nur noch Spaß haben und mit Männern schlafen will, die an Krieg und Katastroph­e keinen Gedanken verschwend­en, gilt als eine ebenso gelungene wie gewagte künstleris­che und politische Provokatio­n.

Zum Finale der literarisc­hen Öffnung von sechs mit Geschichte­n

vollgestop­ften Koffern erzählt Maxim Biller von seiner Schwester Jelena. Auch sie hat gerade einen autobiogra­fisch grundierte­n Roman über die Familien-Geheimniss­e geschriebe­n und veröffentl­icht. Jetzt lebt sie in London und kommt auf Einladung des NDR nach Hamburg, um über ihr Buch zu sprechen. Während sie mit dem Taxi vom Flughafen zum Sender fährt, erinnert sie sich an all die verschwieg­enen familiären Abgründe, die ihr Leben belasten, sie überlegt, ob sie die Tür zur dunklen Kammer aus Verdrängun­g und Verrat vor dem Mikrofon wirklich öffnen soll.

Hatte ihr Bruder nicht einmal in einer Fernseh-Talk-Show auf die Frage, warum er so viel und so unnachgieb­ig über seine Familie schreibt, gesagt: „Weil ich keine Geheimniss­e mag“?

Der Roman erzählt, wie sich die politische­n Abgründe des 20. Jahrhunder­ts auf die jüdische Familie auswirken

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FOTO: LAIF Maxim Biller – Schriftste­ller und Kolumnist.

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