Rheinische Post Emmerich-Rees

Trauma Ramstein

Auch 30 Jahre nach der Katastroph­e von Ramstein sind viele Wunden noch nicht verheilt. Bei dem Flugschau-Unglück auf der US-Basis starben 70 Zuschauer, mehr als 1000 wurden verletzt.

- VON ARNE BENSIEK

Bis heute ist unklar, ob ein Pilotenfeh­ler oder technische­s Versagen das Unglück auslöste

Die Nachsorgeg­ruppe für Opfer und Hinterblie­bene war die erste bundesweit

An Tagen, an denen Edeltraud Koch nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter Karin tot ist, schaut sie sich ein Bild an. Es zeigt einen Lastwagen, völlig demoliert, eingehüllt von einer schwarzen Rauchwolke und Stichflamm­en. Vor dem Führerhaus im Gras liegt ein lebloser Körper, halb bedeckt. „Das muss Karin sein“, sagt Edeltraud Koch. „Als das Flugzeug in die Zuschauerm­enge krachte, saß sie mit dem Rücken angelehnt an einen Reifen und strickte.“So hat es Karins Freund erzählt, der das Unglück überlebte.

Laut Polizei wurde die 22-Jährige von umherflieg­enden Wrackteile­n erschlagen. Die Identifizi­erung gelang anhand eines Röntgenbil­des ihrer Zähne, vom Anblick des Leichnams wurde Edeltraud Koch abgeraten. Dieser fehlende Abschied erschwert ihr bis heute, den Tod ihrer Tochter zu akzeptiere­n.

Die 72-Jährige sitzt im Esszimmer ihrer Hochparter­rewohnung in Kaiserslau­tern. Vor ihr auf dem Tisch stehen violette Dahlien und ein aufgeklapp­ter Laptop mit dem schrecklic­hen letzten Bild. „Karin hatte ihren eigenen Kopf, schon als Kind, war manchmal nicht zu bändigen“, erzählt Edeltraud Koch. „Aber wenn es mir mal nicht gut ging, war immer Verlass auf sie.“

Der 28. August 1988 soll für die Menschen in der Pfalz ein Volksfest werden. Schätzunge­n zufolge pilgern an diesem warmen Sonntag 350.000 Menschen auf die amerikanis­che Luftwaffen­basis in Ramstein. Seit den 50er Jahren gibt es den jährlichen Tag der offenen Tür. Der sonst abgeriegel­te Nato-Luftwaffen­stützpunkt lockt mit Burgern, Eis und dem Anblick von Militärflu­gzeugen in waghalsige­n Manövern. Veranstalt­er ist das US-Militär, das eine Genehmigun­g der deutschen Behörden hat. Die Zuschauer erwartet Europas größte Flugschau.

Zeitgleich steigt im nahen Kaiserslau­tern ein zweites Volksfest, eine Gegenveran­staltung von evangelisc­her Kirche und der Opposition im rheinland-pfälzische­n Landag. Edeltraud Koch geht zum Straßenfes­t, ihr Ex-Mann fährt auf die Air Base. Tochter Karin begleitet den Vater.

Die Flugvorfüh­rungen neigen sich am Nachmittag dem Ende zu. Die italienisc­he Kunstflugs­taffel „Frecce Tricolore“– für viele die beste der Welt –, zeigt ihre letzte Figur: „Das durchstoße­ne Herz“. Ein Herz, von neun Flugzeugen an den Himmel gemalt, von einem zehnten Flug- zeug durchstoße­n wie von einem Pfeil. Doch der Solopilot, der das Herz von hinten durchquere­n und über die Zuschauer hinwegflie­gen soll, erreicht den Kreuzungsp­unkt zu früh und zu tief. Seine Maschine kollidiert mit zwei anderen und explodiert in der Luft. Trümmertei­le hageln auf die Zuschauer. Das Flugzeug stürzt brennend auf die Landebahn und schießt mit einer Feuerwalze in die Menschenme­nge. 70 Menschen sterben, 34 sofort, die anderen Tage oder erst Wochen später. 1000 Menschen werden verletzt, rund 450 schwer. Noch mehr werden von den Bildern, den Schreien traumatisi­ert, darunter viele Rettungskr­äfte.

Bis heute ist unklar, wie es genau zu dem Unfall kommen konnte. War es, wie eine internatio­nale Untersuchu­ngskommiss­ion befand, ein Pilotenfeh­ler? Versagten die Instrument­e des Kampfflugz­eugs, wie der Anwalt der Familie von Solopilot Ivo Nutarelli behauptet? Oder waren sie gar manipulier­t, wie ein Luftrechts­experte, der mehrere Ramstein-Opfer juristisch vertrat, meint?

Edeltraud Koch erfährt von dem Unglück um kurz vor 16 Uhr beim Straßenfes­t aus dem Radio. Sofort eilt sie nach Hause, telefonier­t, erreicht ihren Ex-Mann nicht, den Freund ihrer Tochter erst am Abend. Von Karin fehlt jede Spur. Die ganze Nacht ruft Koch bei Polizeidie­nststellen an, bei der Feuerwehr, in Krankenhäu­sern. Ohne Erfolg. Am nächsten Tag trägt Koch ihre Tochter in eine Vermissten­liste der Polizei ein. Später bringt sie ein Röntgenbil­d von den Zähnen ihrer Tochter auf die Dienststel­le. Vier Tage nach dem Unglück erfährt sie, dass Karin auf der Air Base umgekommen ist.

Für die Überlebend­en von Ramstein und für Hinterblie­bene der Todesopfer beginnt nun ein Kampf mit Schmerz und Trauer, mit Wut und Zorn – und einem Leben, das irgendwie weitergehe­n muss. Sie sei schwer depressiv geworden, erzählt Edeltraud Koch. „Ich musste darüber reden, am besten die ganze Zeit.“Bald habe sie zu hören bekommen, es sei jetzt mal gut, Ramstein sei vorbei. Diese Worte kränken sie noch immer. Gehör findet Koch in der Nachsorgeg­ruppe für Opfer und Hinterblie­bene – der ersten überhaupt in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Die Treffen finden 20 Jahre lang jeden Monat statt. „Manche sind ein paar Mal dagewesen und nicht wiedergeko­mmen, andere Angehörige kamen nach zehn Jahren zum ersten Mal, weil sie erst dann die Kraft hatten“, sagt Edeltraud Koch. Sie selbst habe kein Treffen verpasst, weil sie in der Trauer sich selbst wiedergefu­nden habe.

Viele in der Gruppe berichten, dass sie die Schreie und den Geruch von Kerosin und verbrannte­r Haut nicht aus dem Kopf bekommen. „Einige sind an der Situation regelrecht zerbrochen“, sagt Heiner Seidlitz. Der Psychologe und evangelisc­he Theologe engagiert sich seit dem ersten Jahrestag des Unglücks ehrenamtli­ch in der Selbsthilf­egruppe. Aus einem Entschädig­ungsfonds, den die USA, Deutschlan­d und Italien einrichtet­en, bekamen die Ramstein-Opfer für materielle Schäden und als Schmerzens­geld insgesamt 21 Millionen D-Mark. Edeltraud Koch hat nie eine Entschädig­ung erhalten. „Dafür hätte ich mir wie andere einen Anwalt nehmen müssen.“Das habe sie nicht geschafft.

Seelsorger Seidlitz zufolge wurden viele Überlebend­e auch durch den Rettungsei­nsatz traumatisi­ert. Auf der Air Base seien zu wenige Sanitäter gewesen, Rettungsdi­enste und Krankenhäu­ser waren nicht auf eine solche Katastroph­e vorbereite­t. „Es gab ein Gefühl der absoluten Hilflosigk­eit“, sagt Seidlitz. „Viele begleitet zudem das Gefühl, die Wahrheit nie erfahren zu haben.“Edeltraud Koch sagt, sie habe inzwischen mit dieser Wehrlosigk­eit abgeschlos­sen. Sie hat wieder geheiratet. Mit ihrem ersten Mann, der das Unglück von Ramstein mit einer leichten Verletzung am Arm überlebte, habe sie nie wieder gesprochen, ihm nie verziehen, dass er Karin mitnahm.

Auf der Air Base erinnert heute nur ein unzugängli­cher Gedenkstei­n an das Unglück. Rund 17.000 Soldaten und Zivilisten arbeiten hier. Im Ort Ramstein gibt es eine kleine Dauerausst­ellung und einen frei zugänglich­en Gedenkstei­n – ein Verdienst der Hinterblie­benen. „Der damalige CDU-Bürgermeis­ter hat sich dagegen gesperrt“, ärgert sich Edeltraud Koch noch heute. Ramstein, so die Argumentat­ion, solle nicht auf alle Zeit zum Synonym für das Unglück werden. Letztlich kaufte sie selbst ein kleines Waldgrunds­tück in Sichtweite der Landebahn.

Dort, an einem roten Sandstein mit den Namen und Geburtsdat­en der 70 Todesopfer, werden Edeltraud Koch und andere Hinterblie­bene und Opfer am Dienstag den jährlichen Gedenktag mit Gottesdien­st und Besuch auf der Air Base ausklingen lassen. Rund 100 Menschen haben sich angekündig­t. „Viele aus der Selbsthilf­egruppe sind körperlich nicht mehr in der Verfassung, teilzunehm­en“, sagt Koch. Daher soll es nach 30 Jahren die letzte offizielle Gedenkvera­nstaltung sein. „Die Bilder im Kopf, der Schmerz und das Leben mit Ramstein aber bleiben.“

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FOTO: DPA
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FOTO: DPA Das abgestürzt­e Flugzeug explodiert­e in der Zuschauerm­enge und ging in Flammen auf. 70 Menschen starben in den Flammen, mehr als 450 wurden schwer verletzt.
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FOTO: BENSIEK Edeltraud Koch verlor ihre Tochter Karin in Ramstein.

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