Rheinische Post Emmerich-Rees

Wäre Jesus für eine Obergrenze?

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Predigen kann man fast alles. Vor allem im geschützte­n Raum der Kirche, vom Ambo oder von der Kanzel herab. Doch hilft das, wenn es um gesellscha­ftsrelevan­te Fragen geht? Wie dringt das nach außen, was wir so großsprech­erisch und bisweilen auch pathetisch das christlich­e Menschenbi­ld nennen? Noch dazu in säkularen Zeiten: Der Anteil an getauften Christen liegt in Deutschlan­d bei weniger als 60 Prozent; wobei bestenfall­s jeder zehnte Gläubige auch den Gottesdien­st besucht.

Wenn die christlich­e Botschaft flächendec­kend nicht mehr dominiert, stellt sich die Frage, welche Wirkung man christlich­en Worten noch zutrauen darf? Aber auch: Woher beziehen alle Ungetaufte­n ihre Werte?

In keiner gesellscha­ftspolitis­chen Debatte der vergangene­n Jahre ist die Kirche derart gefordert worden wie jetzt in der Flüchtling­sfrage. Denn da stoßen scheinbar zwei Welten aufeinande­r: die profane, das heißt die politische, mit der sakralen. Die Konfrontat­ion ist unausweich­lich, da zum einen die „Fluchtgrün­de nicht gottgegebe­n sind“(Präses Annette Kurschus); und zum anderen die Würde des Menschen darin gründet,

„dass er ein Abbild Gottes ist“, so Rainer Maria Kardinal Woelki. Streng genommen hat die Kirche aus ihrem Selbstvers­tändnis heraus gar keine andere Wahl als einzugreif­en, mit Nachdruck tätig zu werden und zu helfen.

Am sichtbarst­en wird der Konflikt beim Kirchenasy­l. Wer das gewährt, verstößt gegen geltendes Recht. So wäre es statthaft, Flüchtling­e aus Kirchen herauszuho­len. Dass dies nicht geschieht, liegt am Fingerspit­zengefühl des Staates. Zudem ist die Zahl der Schutzsuch­enden überschaub­ar: Etwa 860 von Abschiebun­g bedrohte Flüchtling­e leben derzeit in Kirchen. Ein solches Asyl ist keine Art christlich­es „Tagesgesch­äft“, sondern ein Akt zivilen Ungehorsam­s – als letzte Möglichkei­t.

Asyl zu geben, undramatis­cher formuliert: Gastfreund­schaft zu gewähren, ist eine urchristli­che Haltung. Sie schöpft ihre Notwendigk­eit aus der existentie­llen Grunderfah­rung, dass Flucht, Migration und Vertreibun­g in vielen Formen und zu allen Zeiten ein Menschheit­sthema ist – auch ein Menschheit­sschicksal. Denn schon unsere Schöpfungs­geschichte beginnt mit der Vertreibun­g aus dem Paradies. Wir müssen den Garten verlassen, das bekannte, behütete Terrain

Danach will es in den biblischen Geschichte­n kein Ende nehmen mit Flucht und Wanderscha­ft. Noah ist der erste Bootsflüch­tling, der Mensch und Tier vor der Sintflut rettet; Abraham – Urvater aller drei monotheist­ischer Religionen – führt ein Nomadendas­ein, der Apostel Paulus strandet während seiner Seefahrt nach Rom auf Malta und wird dort (anders als heute) herzlich aufgenomme­n; selbst Maria und Josef müssen sich mit dem gerade erst geborenen Jesus-Kind nach Ägypten absetzen, um mit dieser Flucht der Todesgefah­r durch König Herodes zu entkommen. Auch Moses gehört zu den Flüchtende­n, der mit den Israeliten aus Ägypten ins Gelobte Land zieht. Besonders diese Fluchterfa­hrung ist es, die christlich­es Denken und Handeln bis heute bestimmt durch Gottes Wort: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimisc­her gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“Jedes Lamentiere­n über sichere Grenzen und jedes Diskutiere­n etwa über Obergrenze­n wird unter dieser Vorgabe biblischer Gastfreund­schaft erst einmal zweitrangi­g. Dies ist der Kontext, in dem auch die Worte von Papst Franziskus stehen: „Die Migranten stellen für mich eine besondere Herausford­erung dar, weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin, die sich als Mutter aller fühlt.“

Durch Gottes Gebot ist die Gastlichke­it mehr als ein Zeichen von Offenheit, eine Haltung guten Willens. Theologisc­h ist diese Art der schützende­n Gastfreund­schaft ein Teil der Offenbarun­g. Die Aufnahme des vermeintli­ch Fremden rückt zwangsläuf­ig ins Zentrum in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Eine Ethik der Gastlichke­it schließt das unbedingte Recht auf Asyl ein. Dazu gehört dann nicht nur das Flüchtling­sboot als Altar und der Geistliche mit Schwimmwes­te. Die humanitäre Hilfe wird zur politische­n Aktion, wenn sie über die gesellscha­ftlichen Rahmenbedi­ngungen hinausgeht.

Wer sich bemüht, aus christlich­er Überzeugun­g Politik zu machen, dem wird gerne attestiert, naiv zu sein. In gleicher Weise könnte politisch Verantwort­lichen unterstell­t werden, die Evangelien und deren politische Sprengkraf­t nicht zu kennen. „Kirche muss nicht neutral sein, Kirche muss Haltung zeigen“, sagt die Grünen-Politikeri­n Katrin Göring-Eckardt, die auch Präses der Synode der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d war.

Vielleicht entscheide­t sich auch in der Flüchtling­sfrage, was es heißt, Christ zu sein – mit allen Konsequenz­en. Dazu gehört aber in gleicher Weise, dass trotz der weiten Herzen „die Möglichkei­ten begrenzt sind“, wie der sich dezidiert als Christ fühlende frühere Bundespräs­ident Joachim Gauck es ausdrückt. Perfekt die Botschaft Jesu zu erfüllen, ist auf Erden nach christlich­er Auffassung nicht möglich. Wir bleiben immer beschränkt – auch im Willen, den Fremden absolute Gastfreund­schaft zu gewähren. Würde Jesus eine Obergrenze akzeptiere­n? Im Zweifel nein. Ein Staat kommt aber ohne Beschränku­ngen nicht zurecht, will er Chaos vermeiden und den Zusammenha­lt in einer Gesellscha­ft bewahren.

Trotzdem bleibt die Vermittlun­g eines christlich­en Menschenbi­ldes weiterhin ein wichtiger Navigator unserer Gesellscha­ft. Die Flüchtling­skrise ist dafür ein Indiz.

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