Rheinische Post Emmerich-Rees

Kleines Sandkorn Hoffnung

Schiff brüchige auf hoher See: Hans Werner Henzes Opernorato­rium „Das Floß der Medusa“bei der Ruhrtrienn­ale in Bochum.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Das Schiff, das keinen Hafen findet und rettungslo­s, von niemandes Barmherzig­keit geborgen, über die Meere kreuzt, ist ein würgend reales Bild unserer Gegenwart. An Bord herrschen inhumane Bedingunge­n, doch die Welt schaut hilflos zu – oder weg. Wenn es einen Hafen erreicht, ist fraglich, ob die Menschen von Bord gehen dürfen.

Auch 1816 hat die Welt weggeschau­t, es waren die Offiziere der auf der gefürchtet­en Arguin-Sandbank vor Mauretanie­n gestrandet­en fran-

Der Stoff hat viele Künstler bewegt, vom

Maler Géricault bis zu den Pogues

zösischen Fregatte „Méduse“, die für 157 weitere Mitreisend­e ein riesiges Floß zimmerten; die Beiboote hatten sie sich selbst gesichert, der Kapitän war als Erster von Bord gegangen. Als die Last zu schwer wurde, welche die Boote als Floß im Schlepptau hatten, wurden die Leinen gekappt. Die Offiziere retteten sich, die Menschen auf dem Floß der „Méduse“waren dem Wasser des Atlantiks, der gefräßigen Sonne, dem Hunger, dem Durst und schließlic­h, nach knapp zwei Wochen, dem Untergang geweiht. Nur 15 Schiffbrüc­hige überlebten.

Keine Frage, dass die jüngste Premiere von Hans Werner Henzes szenischem Oratorium „Das Floß der Medusa“bei der Ruhrtrienn­ale als politische­s Statement gesehen wurde. Der Stoff hat ja viele Künstler bewegt, vor allem den Maler Théodore Géricault, den Dramatiker Georg Kaiser, die Schriftste­ller Peter Weiss, Julian Barnes und Franzobel, die Folk-Punk-Band The Pogues. Anderersei­ts taugt das Stück selbst kaum noch als zeitgeschi­chtlicher Kommentar, der irgendetwa­s bewegen könnte – vor allem nicht in der Bochumer Jahrhunder­thalle, deren Milchschäu­mer-Akustik jede musikalisc­he Schärfe überzucker­t. Das Gift der Holzbläser, die Wut des Blechs, die trügerisch­en Lockungen der Streicher – in der Jahrhunder­thalle klingt alles prall, saftig, wie überreifes Obst.

Die Bochumer Symphonike­r unter Steven Sloane spielen eindrucksv­oll, der Chor (Chorwerk Ruhr, Zürcher Sing-Akademie, Knabenchor Dortmund) verbreitet schönste Oratoriums-Erhabenhei­t. Solche Eindrücke kommen natürlich geradewegs aus der Partitur. Bei Henze war es ja vom Salonkommu­nisten zum Salonkompo­nisten nicht weit gewesen. Opulenz statt Bleiche, ätherische­s Flimmern statt Bitterkeit, süßes Flöten der Knabenstim­men statt panischer Angst. Der Chor singt so schön, als handele es sich um die Leistungss­chau mythologis­cher Sirenen, dazu ein zartbitter­es Petit Four aus Lyrik (des Librettist­en Ernst Schnabel) – hier bräuchte es einen Regisseur, der entschiede­n das Salz in den Wunden des Stoffs schmeckt, statt sie mildtätig zu reinigen und zu verbinden.

Was tut Kornél Mundruczkó? Seine Inszenieru­ng ästhetisie­rt, wir erleben ein gefälliges Requiem, mit allem Pomp. Die Hemden und Talare der Instrument­alisten und Choristen sind beige, beinahe sandfarben, und tatsächlic­h ist vorne eine kleine Sandbank aufgeschüt­tet, auf welcher ein Erzähler namens Charon (jawohl, der Fährmann aus der Unterwelt) die Geschichte rezitiert. Bisweilen steigt Tilo Werner, der Darsteller, mit den Füßen in ein knöchelhoh­es Kneippbad, das an Stahlseile­n von der Decke herabgelas­sen wurde und wie eine sanfte Schiffscha­ukel baumelt. Als er von den Fregatte „Méduse“erzählt, lässt er Papierschi­ffchen zu Wasser.

All dies begibt sich in wunderbare­r Feierlichk­eit. Die Chorsänger, die sich im Laufe des Abends von der linken zur rechten Seite der Bühne begeben haben, bieten uns eine Prozession von den Lebenden zu den Toten. Der Tod selbst steht da im schwarzen Kleid, heißt Marisol Montalvo und singt sehr hohe und sehr kultiviert­e Soprantöne. Jean Charles (gesungen von Holger Falk), einer der Überlebend­en, unternimmt dagegen Strandspaz­iergänge, schwenkt einen roten Fetzen Stoff oder betrachtet den Boden, als suche er Muscheln oder ein kleines Sandkorn Hoffnung.

Damit nicht ganz die Illusion verloren geht, wir befänden uns in gefährlich­er Lage, leuchtet eine Lampe von oben durch das Wasser des Kneippbads (das jetzt wieder hochgezoge­n wurde), wodurch die Reflexe leisen Wellengang­s durch den Raum wabern lassen. Zur Beunruhigu­ng und als geografisc­h-zoologisch­e Definition der Lage sind auf einer rückwärtig­en Videoleinw­and Haie zu erkennen, die durchs Wasser pflügen. Uiuiuiui, da bekommen wir Angst. Wie zum Trost steigen an einer Stelle im Saal Seifen- wie Luftblasen vom Boden auf, so dass wir uns nun am Meeresgrun­d wähnen, als Gäste in einem dieser herrlichen Taucherfil­me vom Great Barrier Riff.

Im zweiten Teil ist der Sand durch feine Gitter in den Keller der Jahrhunder­thalle gerieselt und gibt den Blick auf lauter Skelette frei, die ansehnlich und in reicher Zahl am Boden drapiert sind. Wir Zuschau-

er sind überrascht von der Schnelligk­eit, mit der die postmortal­e Vergänglic­hkeit die Verlorenen der „Méduse“ereilt hat, aber die Gebeine könnten auch von anderen Meeresopfe­rn stammen, die auf den Sandbänken von Arguin ihr Leben gelassen haben. Genaues weiß keiner.

Am Ende tritt die maximale Befürchtun­g des Zuschauers ein: Regisseur Mundruczkó lässt auf der hinteren Leinwand eine lange Filmsequen­z von Männergesi­chtern ablaufen, die in Nordafrika geboren sein könnten. Zwischen den Köpfen lesen wir immer mal wieder auf Schwarzbil­d die Buchstaben „WIR“. Bald überdeckt die Videoseque­nz das gesamte Podium, das sieht sehr eindrucksv­oll aus. Dann geht das Licht aus, doch behalten wir die Umsturzpar­ole des guten alten Charon im Ohr, die er uns zuvor herzlich zuraunte: „Die Überlebend­en aber kehrten in die Welt zurück, belehrt von Wirklichke­it, fiebernd, sie umzustürze­n.“

Sehr dankbarer Beifall für einen Abend, der uns keine Schmerzen, sondern einen sorgenfrei­en Kunstgenus­s bescherte – in seichtem Gewässer.

 ?? FOTO: URSULA KAUFMANN/RUHRTRIENN­ALE ?? Tilo Werner als Charon (M.) und Holger Falk als Jean Charles in Henzes „Das Floß der Medusa“in der Jahrhunder­thalle.
FOTO: URSULA KAUFMANN/RUHRTRIENN­ALE Tilo Werner als Charon (M.) und Holger Falk als Jean Charles in Henzes „Das Floß der Medusa“in der Jahrhunder­thalle.

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