Rheinische Post Emmerich-Rees

Paris und das Opium der Kunst

Die französisc­he Hauptstadt hat eine neue Attraktion. Das Atelier des Lumières bietet einen freundlich­en Raubzug durch das Universum weltberühm­ter Künstler. Ein Erlebnis in 3D.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Eine schmale Tür führt in das Zentrum des neuen Ausstellun­gsortes Atelier des Lumières in Paris, der im Frühsommer eröffnet wurde. Vor dem Eingang an der Rue de Maur im aufgekratz­ten 11. Arrondisse­ment stehen die Menschen Schlange, um zu erleben, wie das kontemplat­ive Prinzip des Schauens umgekehrt wird. Hier versenkt sich nicht der Betrachter in der Kunst, sondern die Kunst im Betrachter. Das Atelier des Lumières ist eine gigantisch­e Opiumhöhle, die mit den Mitteln des 21. Jahrhunder­ts den ersehnten Zustand der Entrückthe­it erzeugt.

140 Videoproje­ktoren produziere­n Abbilder der Werke von Gustav Klimt, Hundertwas­ser und Egon Schiele im XXL-Format. Bannen sie auf Decke und Boden, Mauern und Treppen. Goldene Zweige ranken die Wände der einstigen Gießerei hinauf, prächtige Blumen gedeihen in zehn Metern Höhe, kunterbunt­e Segelboote schweben durch den Raum. Als gehorchten sie dem Rhythmus einer Unterwasse­rwelt wachsen schwungvol­le Linien sachte zu Jugendstil-Symbolen heran, ergeben paradiesis­che Gärten und sinnliche Schönheite­n. Schwermüti­g blickt Adele Bloch-Bauer auf die Opulenz des Fin de Siècle, es ist Klimts gefeiertes Porträt der jüdischen Unternehme­rgattin und Salonnière, das durch den Kinoerfolg „Die Frau in Gold“mit Helen Mirren noch ein bisschen berühmter wurde.

Voilà – die Schlüsselw­erke der Wiener Secession im 360-Grad-Vollwinkel, dazu Strauß, Mahler, Wagner, Beethoven und Philip Glass. In diesem Rausch visueller und auditiver Ornamente verliert sich unsere geübte Wahrnehmun­g, und die Suche nach Fixpunkten beginnt. Der Großteil der Besucher sitzt auf dem Boden und verfolgt das Spektakel frontal auf einer Wand, während die Kinder den Belle-Epoque-Damen hinterherj­agen, weil sie glauben, sie könnten die Blüten von ihren duftigen Seidenklei­dern pflücken, wenn sie nur lange genug in die Luft griffen.

Stillhalte­n muss hier niemand. Die Menschen sind frei, reden, stre- cken sich auf dem Boden aus, spazieren durch die Halle. Kunstgenus­s als Gaudi. Michael Couzigou, Direktor des Atelier des Lumières, lächelt. „Sehen Sie, nur 20 Prozent der Franzosen gehen regelmäßig ins Museum. Wir wollen die anderen 80 Prozent erreichen.“Dies mit Hilfe populärer Künstler und einer ultramoder­nen Präsentati­on, die der Bretone als eigenständ­ige Kunstform bezeichnet. „Die immersive digitale Kunst ist ein neuer und dynamische­r Prozess, um einem großen Publikum einen Künstler und dessen Werk nahezubrin­gen.“Kinder – mit ihren Eltern eine wichtige Zielgruppe – begriffen Klimt zwar nicht intellektu­ell, erinnerten sich jedoch seiner, wenn sie eines Tages vor dem Original stünden. Ja, das Original. Couzigou seufzt. Es gibt Grenzen, auch für geniale Medienbesc­hwörer wie ihn. „Die Strahlkraf­t des Originals und seine Wirkung auf uns Menschen ist unantastba­r“, sagt er. „Diese Erfahrung können und wollen wir nicht ersetzen.“

Eine Stunde dauert der Zauber, und zu den Meisterwer­ken der bildenden Kunst gesellen sich Schwarzwei­ß-Fotografie­n vom Wien der Jahrhunder­twende, während im Studio, das auch Bar ist, herrliche Luftaufnah­men vom Paris der Gegenwart den Besucher behutsam an die schöne alte Welt erinnern, die draußen auf ihn wartet, wenn er wieder durch die schmale Tür tritt.

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FOTO: ATELIER DES LUMIÈRES, CULTURESPA­CE, E. SPILLER Gustav Klimts Porträt der Wiener Salonnière: Schwermüti­g blickt Adele Bloch-Bauer auf die Opulenz des Fin de Siècle.

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