Rheinische Post Emmerich-Rees

Pfaffs Hof

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Und zu der musste ich jetzt zum Spielen. Ich war ganz zittrig, als ich den Feldweg ent- langging.

Was war, wenn wir wieder nicht wussten, was wir sagen sollten?

Ich musste auf den Klingelkno­pf drücken.

Onkel Maaßen hatte mich zwar durch das Fenster der Werkstub gesehen, aber nur kurz genickt. Barbara machte mir die Tür auf. „Ist deine Mutter nicht da?“, fragte ich verblüfft.

Ich hatte gemerkt, dass ich vor „Mutter“eine kleine Pause gemacht hatte, und fand es selbst furchtbar.

Aber Barbara sagte nur: „Nein, sie ist in die Stadt gefahren.“

Sie sah so ernst aus wie immer, aber sie klang lieb dabei.

Ich wunderte mich. „Mit dem Auto? Sie hat einen Führersche­in?“

„Ja, hat sie“, antwortete Barbara, und ich konnte verstehen, dass sie stolz darauf war.

Meine Mutter hatte keinen Führersche­in, nicht einmal mein Vater, und wir hätten auch gar kein Geld für ein Auto gehabt.

Eigentlich kannte ich überhaupt keine Frau mit Führersche­in.

Onkel Maaßen fuhr ein hellblaues französisc­hes Auto, das wie ein Sportwagen aussah.

Mutter hatte mir erzählt, dass er sich alle zwei Jahre ein neues Modell anschaffte, weil Automobile seine große Leidenscha­ft waren.

Wir guckten uns ein bisschen komisch an, Barbara und ich, denn wir hatten die gleichen Strickröck­e an, ihrer war marineblau, meiner dunkelgrün – Tellerröck­e.

Im Dorf hatte eine Frau gelebt, die eine Strickmasc­hine besaß. Sie wohnte zur Miete in den Mansarden über Bertrams Tenne.

Sie hatte keinen Mann, aber ein Kind. Ein kleines Mädchen, ganz leise, genau wie die Mutter, die selbst ein „gefallenes Mädchen“war, hatte Opa mir erzählt.

Bei ihr konnte man Stricksach­en bestellen, sie verdiente damit ihr Geld.

Onkel Maaßen fand das gut, und deshalb hatte Mutter unsere Röcke bei ihr in Auftrag gegeben.

Zum Maßnehmen war ich dann mit Mutter in der Dachkammer gewesen, wo diese unglaublic­he Maschine stand, die eine Reihe in Ritschrats­ch stricken konnte, für die Mutter mit ihren Nadeln ewig brauchte.

Dass ich den Namen der Frau nicht mehr wusste, machte mich traurig.

Barbara winkte mich an der Werkstub vorbei in ein Zimmer, das ich gar nicht kannte.

„Unser neues Esszimmer“, sagte Barbara. „Mutter hat es vom Wohnzimmer abgetrennt.“

Früher hatten Maaßens wie alle anderen in der Küche gegessen.

Der Raum war vollgestel­lt mit schwarzen geschnitzt­en Möbeln: einem klobigen Schrank, einem Tisch, sechs Stühlen mit gedrechsel­ten Beinen und einer Truhe.

„Echte Antiquität­en“, erklärte Barbara, „aus ihrem Elternhaus.“

„Dann sind ihre Eltern bestimmt reich“, flüsterte ich.

Sie nickte ganz kurz. „Hatten die größte Wäscherei der Stadt – vorm Krieg.“

Auf dem Tisch lag eine Decke, die mit Kornblumen und Klatschmoh­nblüten bestickt war, auf dem Fußboden ein dicker Persertepp­ich.

Es war zu dunkel im Zimmer und viel zu warm.

Barbara klappte die Truhe auf. „Sie hat Zeitschrif­ten. Sollen wir uns die angucken?“

Zeitschrif­ten kannte ich nur von Mutters reicher Schwester Liesel in Köln, und ich fand sie aufregend – so viele bunte Bilder von schönen Menschen.

Wir setzten uns nebeneinan­der an den Tisch, und Barbara legte einen dicken Stapel „Frau im Spiegel“und „Das Neue Blatt“vor uns hin.

„Wir könnten Schah von Persien spielen.“Sie hörte sich munter an. „Ich bin Farah Diba, und du bist Soraya.“

Ich hätte so gern mit ihr gespielt, aber ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Sie verdrehte ein wenig die Augen, blätterte und fing an zu erklären:

Der Schah war zuerst mit der schönen Soraya verheirate­t, aber die konnte ihm keine Söhne schenken, deshalb verstieß er sie und heiratete Farah Diba, die genauso schön war und ihm dann auch noch viele Kinder gebar.

„Und ich soll die Soraya spielen!“Das war doch ziemlich gemein. Barbara verdrehte wieder die Augen ein bisschen. „Dann kannst du Sirikit sein. Hier, guck.“

Sirikit war wunderschö­n, und sie war die Königin von Thailand, erzählte mir Barbara.

„Ja gut, dann spiele ich Sirikit. Kennen die sich denn, Farah Diba und Sirikit?“

Barbara zuckte die Achseln. „Wir tun einfach so.“

Ich überlegte, wie es in Thailand wohl so war und in Persien, aber dann entdeckte ich in der Zeitschrif­t eine Frau, die ich viel lieber sein wollte als Sirikit, Farah Diba oder Soraya.

Sie sah mindestens genauso gut aus, aber sie hatte ganz moderne Kleider an, und ihre Augen standen so weit auseinande­r wie Ommas.

„Das ist Jackie Kennedy.“Barbara guckte begeistert. „Die ist auch toll. Und sie hat einen ganz tollen Mann.“

„Ja, ich weiß“, sagte ich schnell, damit sie mich nicht für ganz dumm hielt.

Kennedy war der junge Präsident von Amerika, und über ihn sprachen alle und hofften auf ihn.

Barbara zeigte mir viele Fotos von ihm und Jackie und den beiden süßen Kindern.

Vielleicht war es in Amerika schöner als in Persien oder Thailand – alles sah so neu und sauber aus. Und alle Straßen waren asphaltier­t und hatten Laternen am Rand.

„So möchte ich auch mal . . .“, seufzte ich, und Barbara nickte feste.

Mir war warm, und dann fiel mir plötzlich etwas anderes ein: „Kannst du Rollschuh laufen?“

Sie nickte, kühl schon wieder. „Klar.“

„Dann könnten wir doch Kilius / Bäumler spielen!“

Auf einmal hatte ich so ein schönes Kribbeln im Bauch. „Bei uns auf der Tenne! Da ist ganz viel Platz, und es stehen auch keine Kühe im Stall. Wir tun einfach so, als hätten wir Schlittsch­uhe an.“

Kilius / Bäumler waren im März Weltmeiste­r geworden, und ich hatte ihre Kür im Fernsehen gucken und mitfiebern dürfen.

Alle hatten es geguckt, sogar Vater, obwohl er sonst immer sagte: „Eislaufen soll Sport sein? Das ist doch bekloppt!“Für ihn war nur Fußball Sport und sonst nichts.

(Fortsetzun­g folgt)

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