Rheinische Post Emmerich-Rees

Die Schule der Nation

SERIE MIGRATION (3) Erster Schauplatz aller Integratio­nskonf likte ist die Schule. Sie ist gesellscha­ftlicher Seismograf, aber auch Bollwerk des liberalen Staats. Die Religion, sprich: der Islam, ist nur ein Teil dieser Auseinande­rsetzung.

- VON FRANK VOLLMER

Deutschlan­d ändert sich – das ist nicht zu bestreiten. Wer sehen will, wie sehr, der muss in die Schulstati­stik schauen. Mitte August hat das Statistisc­he Landesamt neue Zahlen für NRW vorgelegt. 35 Prozent der Schüler im Land haben mittlerwei­le eine „Zuwanderun­gsgeschich­te“, was bedeutet: Sie selbst oder ein Elternteil wurden nicht in Deutschlan­d geboren, oder zu Hause wird nicht Deutsch gesprochen. In Grundschul­en sind es 43 Prozent, in Gelsenkirc­hen und Duisburg mehr als die Hälfte, Tendenz fast überall steigend.

Die Schule nimmt Entwicklun­gen vorweg – für ganz NRW bezifferte die Landesregi­erung 2017 den Anteil der Menschen mit Migrations­hintergrun­d „nur“auf knapp 26 Prozent; die Definition war fast dieselbe wie bei der„Zuwanderun­gsgeschich­te“. Und anders als bei den Schülerdat­en gab es damals auch Auskunft darüber, wer die Zuwanderer sind. Ausschließ­lich Muslime jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Je etwa ein Sechstel der Menschen mit Migrations­hintergrun­d stammte aus der Türkei, aus Polen, aus der ehemaligen Sowjetunio­n und aus weiteren„Anwerbelän­dern“, also etwa Italien, Spanien und dem früheren Jugoslawie­n.

Und ein Drittel der Schüler ist zwar selbst zugewander­t oder hat zugewander­te Eltern – aber nur ein Sechstel war im vergangene­n Schuljahr islamische­n Glaubens. Anders gesagt: Wer glaubt, die große und wachsende Vielfalt an den Schulen des Landes sei die größte Herausford­erung für das Bildungssy­stem, und im Bildungssy­stem wiederum entscheide sich maßgeblich Wohl und Wehe unserer Integratio­nsbemühung­en – beide Thesen sind schon fast Binsenweis­heiten –, der wird sich damit auseinande­rsetzen müssen, dass der Islam nur ein Teil des Problems ist.

Kein unwichtige­r, das räumt auch Klaus Spenlen ein. Aber: „Religion ist nur ein Identitäts­merkmal“, sagt der Pädagoge und Sozialwiss­enschaftle­r von der Uni Düsseldorf, der auch als Lehrer gearbeitet hat. „Aufenthalt­sstatus, ethnische Herkunft, Heimatregi­on, Sprache, Bildungsst­and sind andere, die das Merkmal ,Muslim’ aufweichen.“Viele Wissenscha­ftler, sagt Spenlen, sprächen „lieber von einem orientalis­chen als einem muslimisch­en Hintergrun­d“. Das umfasse dann etwa auch Drusen, Jesiden und syrische Christen. Spenlen spitzt noch zu: „Im Hinblick auf traditione­lle Rollenbild­er ist es viel wichtiger, ob jemand vom Land oder aus einer Großstadt kommt, als ob er Muslim oder Christ ist.“

Das macht freilich die Debatte nicht eben einfacher, in der gern auf „den“Islam verwiesen wird, der die Wurzel aller Übel sei. So tut es etwa der frühere ARD-Journalist Joachim Wagner in seinem Buch „Die Macht der Moschee“, für das er unter anderem mit etwa 100 Lehrern und Schülern in fünf deutschen Städten gesprochen hat. Seine These: Politik und Gesellscha­ft hätten sich „in der kulturelle­n Integratio­nsbereitsc­haft und -fähigkeit der Muslime getäuscht“.

Was nun also: Sprechen wir eher von kulturelle­n oder von religiösen Differenze­n? Wissenscha­ftlich klar belegen lässt sich beides nicht, weil entspreche­nde Erhebungen fehlen. Zwar ist der größte Teil der seit 2015 angekommen­en Zuwanderer muslimisch­en Glaubens; aber Integratio­nsprobleme an den Schulen gibt es schon viel länger. Zwar zeigte sich 2016 in einer Erhebung vonWissens­chaftlern der Berliner Hochschule für Medien, Kommunikat­ion und Wirtschaft, dass viele Flüchtling­e Positionen vertreten, die am ehesten der AfD nahestehen, also nicht hilfreich für die Integratio­n in eine pluralisti­sche, liberale Gesellscha­ft sind; allerdings ist überdurchs­chnittlich­e Zustimmung zur AfD auch etwa für Russlandde­utsche belegt. Zwar identifizi­erte eine Erhebung der Uni Münster 2016 etwa ein Achtel der Türkischst­ämmigen in Deutschlan­d als religiöse Fundamenta­listen; doch sind etwa Kinderehen auch unter traditione­ll lebenden Roma verbreitet. Zwar gaben 2016 in einer Befragung des Bonner Instituts für Berufsbild­ung 23 Prozent der Azubi-Bewerber mit türkischem oder arabischem Hintergrun­d an, sie hätten ausschließ­lich eine andere Sprache als Deutsch als Mutterspra­che gelernt; aber zugleich sagten das auch 22 Prozent der Südeuropäe­r und 45 Prozent der Osteuropäe­r.

Die Indizien sind vielfältig, dass es um eine kulturelle Auseinande­rsetzung geht, bei der Religion nur ein Teilaspekt ist. Die Schule ist nicht nur der erste Schauplatz dieser Auseinande­rsetzung, sie ist auch das Bollwerk des liberalen, säkularen Staats gegen alle Arten von Illiberali­smus, darunter Islamismus. Sie ist die Schule der Nation im wörtlichst­en Sinn. Von einem kulturelle­n statt einem nur religiösen Konflikt zu reden, ist dabei keine sprachlich­e Spitzfindi­gkeit. Es darf auch nicht dazu dienen, Probleme etwa mit den Islamverbä­nden kleinzured­en. Das ist, da haben Kritiker wie Wagner recht, lange genug geschehen.

Es geht vielmehr um einen Blickwinke­l, der weit genug ist. Die Probleme der Schulen auf Kopftücher, Gebetsräum­e und Burkinis zu reduzieren, verstellt den Blick auf andere, womöglich tiefer sitzende Probleme, die nicht nur Muslime betreffen, etwa den in Deutschlan­d besonders starken Zusammenha­ng zwischen Elternhaus und Bildungsch­ancen der Kinder. In Pisa-Studien schneiden italienisc­hstämmige Kinder ähnlich schlecht ab wie türkischst­ämmige.

Und was den Islam angeht: Das laizistisc­he Frankreich hat schlechte Erfahrunge­n damit gemacht, die Religion aus den Schulen zu verweisen. Die deutsche Tradition ist eine andere: Zusammenar­beit von Religion und Staat, auch in der Schule. „Wer Muslime dazu zwingt, ihre Religion zu Hause zu lassen, schließt sich selbst aus dem Prozess aus“, sagt etwa Spenlen:„Das verstehen die Lehrer in den Schulen häufig viel besser als die Politiker.“Schnelle Lösungen sieht allerdings auch er nicht: „Integratio­n braucht viel Zeit, 40 bis 50 Jahre bestimmt.“

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