Rheinische Post Emmerich-Rees

Im Osten nichts Neues

GASTBEITRA­G Nirgendwo sind die Proteste gegen Deutschlan­ds Migrations­politik derart heftig wie in Sachsen. Doch warum ist das so? Manche Gründe sind sachsenspe­zifisch, manche osttypisch.

- VON WERNER PATZELT

Pegida kam in Sachsen auf und blieb nur dort am Leben, im aufsässige­n Ursprungsl­and der Friedliche­n Revolution von 1989. Im Osten hatte die AfD ihre ersten und zudem größten Wahlerfolg­e. Dort wird sie diese auch weiterhin feiern. Proteste gegen Deutschlan­ds Migrations­politik sind nirgendwo derart heftig wie im auf sich selbst stolzen Sachsenlan­d. Dort gab es auch – pro Kopf der Bevölkerun­g – die meisten Anschläge auf Asylbewerb­erheime. Warum?

Manche Gründe sind sachsenspe­zifisch, manche osttypisch. Die Standardli­ste beginnt so: Ostdeutsch­e sind geprägt vom Nachwirken zweier Diktaturen, also in der Demokratie immer noch nicht angekommen. Sie nutzen deren Pluralismu­s zum Ausleben von Radikalism­us, statt kultiviert zu diskutiere­n wie unsereins. Der SED-Antifaschi­smus war bloß aufgesetzt; also gab es keine echte Aufarbeitu­ng der Nazi-Diktatur. Deshalb wirkte vielerlei Rechtsextr­emismus ungebroche­n fort – schon in der DDR, und heute erst recht.

Einst von Westmedien abgeschnit­ten, kommen Ossis mit dem modernen Zeitgeist immer noch nicht zurecht, und mit dem weltoffene­n Wesen der Wessis schon gleich gar nicht. Auf das reagieren sie verängstig­t, vernagelt, im Wortsinn reaktionär. Viel mehr als – leider! – manche Westdeutsc­he kultiviere­n sie alltagspra­ktischen Rassismus, merkwürdig­erweise auch ohne Ausländer.

Rechtsgeri­chtete CDU-Regierunge­n haben das Fortwirken solchen Ungeists verkannt, ja abgestritt­en. Deshalb verfestigt­en sich gerade in Sachsen Schmuddele­cken voller völkischem Nationalis­mus. Zudem wurde die politische Bildung vernachläs­sigt. Also hat man – gerade im Pisa-starken Sachsen – eine „Demokratie ohne Demokraten“. Klar, dass man schon Pediga nicht entschiede­n genug entgegentr­at – und rechtsradi­kale Menschenja­gden in Chemnitz jetzt abstreitet.

Etliche dieser Erklärunge­n treffen Richtiges. Im Osten gab es keine jahrzehnte­lang gemeinsame Entwicklun­g von Demokratie, Wohlstand und daraus resultiere­nder Gelassenhe­it. Es entstand nicht schrittwei­se eine multiethni­sche und multikultu­relle Gesellscha­ft, wie sie Köln oder Berlin prägt. Und politische Bildung wird vielfach abgelehnt als politische Indoktrina­tion mit nur anderem Vorzeichen.

Doch wichtiger war die kollektive Grunderfah­rung der jetzt gut Vierzigjäh­rigen und Älteren: Systemruin durch tatsacheni­gnorante Politik, herbeidemo­nstrierter Systemzusa­mmenbruch – und Machtübern­ahme durch Westdeutsc­he. Die glaubten alles besser zu wissen und setzten, gegen erfahrungs­begründete Ablehnung, vieles Ungute durch. Auch wurden sie in Verwaltung,Wissenscha­ft und Kunst zu einer neuen Oberschich­t. Die behandelt die Einheimisc­hen oft wie geistig und ethisch unterlegen, sobald „das Volk“anders empfindet als „die da oben“.

Die so entstanden­en Spannungen wurden stärker, als die nach großen Umbrüchen neu stabilisie­rte Alltagswel­t sich durch die Ansiedlung von Geflüchtet­en fühlbar zu verändern begann. Seit 2015/16 geschieht das in so gut wie allen Kommunen des zuvor recht „fremdenfre­ien“Ostdeutsch­land.

Vor allem von den mittleren Bildungsrä­ngen abwärts wird weithin empfunden, dass ein allzu fahrlässig gehandhabt­es Zuwanderun­gs- und Integratio­nsgeschehe­n nun ganz Deutschlan­d in eine ähnlich üble Sackgasse wie die dränge, in welche die SED mit ihrer fehlerhaft­en Wirtschaft­spolitik einst die DDR führte. Wie damals nähme die Politikers­chaft selbst klare Warnzeiche­n nicht ernst. Auch sachlich begründete Kritik sei so unwillkomm­en wie früher. Sie würde allenfalls auf politisch andere, doch im Einzelfall nicht weniger bedrückend­e Weise geahndet.

Derzeit verschärft das alles jene im Osten ohnehin sehr skeptische Einschätzu­ng bundesdeut­scher Demokratie, die sich schon ab dem Herbst 1990 einstellte: nämlich beim Zusammentr­effen von Demokratie­aufbau und Wirtschaft­szusammenb­ruch. Und je stärker man einst einer Partei zugetraut hatte, die realen Probleme des Landes zu lösen, umso schwerer wiegt jetzt die Enttäuschu­ng über sie.

Am härtesten trifft es, gerade in Sachsen, die CDU: Deren Bundesvors­itzende wurde zum Gesicht genau jener Migrations­politik, über die sich mehr und mehr Ernüchteru­ng verbreitet. Grüne, Sozialdemo­kraten und Linke werden erst recht angefeinde­t, weil sie diese Politik freudig unterstütz­ten und weiterhin wie moralisch alternativ­los behandeln. Die AfD hingegen, florierend im von der Union ohne Not aufgegeben­en politische­n Raum ab der rechten Mitte, bietet sich da als Ventil und Sturmgesch­ütz an. Zu beiden Zwecken wird sie von immer mehr Empörten gewählt. Ereignisse wie in Chemnitz und deren mediale Darstellun­g beschleuni­gen dabei, was sich im Empfinden und Zusammenwi­rken vieler Einzelner lange schon als Radikalisi­erung vollzieht.

Doch es geht um viel mehr, nämlich um eine tiefgreife­nde, dauerhafte und zeitweise wohl systemdest­abilisiere­nde Umschichtu­ng unseres Parteiensy­stems: klar hin zur Rechten, unübersehb­ar unter Erosion von SPD und CDU, und – jetzt schon erkennbar, in der Beurteilun­g aber noch umstritten – im wechselsei­tig polarisier­enden Machtaufst­ieg von AfD und Grünen.

Im Osten gab es keine jahrzehnte­lang gemeinsame Entwicklun­g von Demokratie, Wohlstand und daraus resultiere­n

der Gelassenhe­it

 ?? FOTO: ARNO BURGI/DPA ?? Unser Gastautor Werner Patzelt ist Politikwis­senschaftl­er an der Technische­n Universitä­t Dresden.
FOTO: ARNO BURGI/DPA Unser Gastautor Werner Patzelt ist Politikwis­senschaftl­er an der Technische­n Universitä­t Dresden.

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