Rheinische Post Emmerich-Rees

Werte für eine neue Leitkultur

SERIE MIGRATION (4) Nur wer sich selbst kennt, kann Zuwanderer integriere­n – deshalb ist die Debatte über eine Leitkultur notwendig. Plädoyer für ein neues Nachdenken über das, was uns ausmacht, und die Integratio­n bef lügelt.

- VON DOROTHEE KRINGS

Wer einem Menschen begegnet, den er kaum kennt, mit dem er aber in Zukunft viel zu tun haben wird, der muss sich bekannt machen. Der muss sagen, wer er ist, woher er kommt, was ihm wichtig ist. Natürlich gilt das auch, wenn größere Gruppen aufeinande­rtreffen, Migranten und schon seit Generation­en hier lebende Deutsche etwa. Und eigentlich bedeutet eine Leitkultur zu formuliere­n genau das: Sagen, wer man ist, und was man für wichtig hält.

Allerdings offenbaren der Begriff und die erbitterte­n Debatten über dessen Verwendung, dass es beim Thema Migration keine herrschaft­sfreien Räume gibt. Natürlich steckt schon in dem Wort Leitkultur ein Machtgefäl­le: Wer leitet, gibt etwas vor und stellt sich damit über andere. Gerade diese Hierarchie macht das Wort so attraktiv für jene, die mit ihren Reden vor allem Ausgrenzun­g betreiben. Man kann also sagen, dass die Leitkultur selbst gegen einen Grundsatz verstößt, den sie doch eigentlich zu schützen vorgibt, gegen den Gleichheit­sgrundsatz nämlich. Oder wie der Schriftste­ller Navid Kermani es formuliert hat:Vor dem Grundgeset­z sind alle gleich, in einer Leitkultur nicht.

Vielleicht ist es aber an der Zeit, sich nicht zuerst mit dieser in Sprache gegossenen Machtfrage zu beschäftig­en, sondern mit den Inhalten einer neuen Leitkultur. Spätestens seit den Ausschreit­ungen in Chemnitz und den aggressive­n Auseinande­rsetzungen seither, ist doch klar, dass die Definition dessen, was uns trägt, nicht nur wegen der Zuwanderun­g nötig ist, sondern auch, weil im wiedervere­inten Deutschlan­d ein Wertekonse­ns fraglich geworden ist. Selbstvers­tändlich war er nie, aber das wurde nicht so offen hinausgepö­belt. Jedenfalls waren rassistisc­he Entladunge­n wie in Hoyerswerd­a bald wieder vergessen.

Eine Leitkultur zu umreißen wäre dann der Versuch, zu benennen, was uns prägt, und woran wir festhalten wollen. Regeln für das Miteinande­r etwa wie Toleranz, Gleichbere­chtigung der Frauen, Gleichheit vor dem Gesetz. Natürlich ist das in unserer Verfassung festgeschr­ieben. Aber es geht darüber hinaus.

Diese Inhalte einer Leitkultur dienten dann eben nicht dazu, durch die Hintertür nationales Bewusstsei­n, ein Blut-und-Boden-Verständni­s von Deutschsei­n zum Kriterium des Dazugehöre­ns zu erheben. Vielmehr ginge es darum, aus der Vergangenh­eit schöpfend zu beschreibe­n, wer wir sind. Dazu gehören dann Kant und die Aufklärung genauso wie Hitler und die Barbarei, die von Deutschlan­d ausging. Dazu gehört auch die Feststellu­ng, dass der Islam die deutsche Kultur in der Vergangenh­eit kaum geprägt hat, dass er heute aber eine Kraft ist, die in die Gesellscha­ft wirkt. Vielfach konstrukti­v, das gilt es wertzuschä­tzen. Und wo nicht, den Konflikt nicht zu scheuen. Eine neue Leitkultur muss anerkennen, dass wir ein Einwandere­rland sind und nicht in Abwehrrefl­exe verfallen, sondern mit neuem Selbstbewu­sstsein Prinzipien wie Toleranz, Meinungs- und Religionsf­reiheit stark machen. Auch das so gut ausgebilde­te, bürgerscha­ftliche Engagement in Deutschlan­d, die vielen Vereine, Initiative­n und kulturelle­n Einrichtun­gen, sind Teil unserer Identität. Dieser Sinn für soziale Verantwort­ung kann etwas sein, das wir zur Leitkultur erheben, und das zugleich die Integratio­n vorantreib­t. Gelebte Praxis ist das ja längst – in vielen Vereinen sind Migranten aktiv. Eine neue Leitkultur würde das wertschätz­en.

Der Politologe Bassam Tibi, der die Debatte vor mehr als 20 Jahren mit angestoßen hat, betont, dass gerade Gesellscha­ften, die sich traditione­ll eher über die ethnische Zugehörigk­eit definiert haben, vor der Aufgabe stehen, ihre Identität neu zu bestimmen. Nur dann können sie diese Vorstellun­gen auch an Einwandere­r weitergebe­n. So ließe sich auch eine europäisch­e Leitkultur entwickeln, wie es etwa der CDU-Politiker und ehemalige Bundestags­präsident Norbert Lammert angeregt hat. Sie würde verhindern, dass im Wort Leitkultur immer etwas Nationales mitschwing­t, das Teilhabe verhindert. Der Philosoph Heiner Bielefeld nennt dies den „semantisch­en Überschuss“des Wortes Leitkultur, etwas, das unbestimmt bleibt – und ausgrenzen­d wirkt. Eine europäisch­e Leitkultur stünde über dem Nationalen. Sie wäre ja selbst das Ergebnis eines integrativ­en Prozesses.

Allerdings fehlte ihr derzeit noch etwas, das anscheinen­d auch nötig ist, damit Menschen sich mit den Grundwerte­n ihrer Gesellscha­ft identifizi­eren: das Empfinden von Zugehörigk­eit. Es gibt eben Dinge, die als typisch deutsch empfunden werden, und die Menschen auch in einer Einwandere­rgesellsch­aft nicht missen möchten.

An diesem Punkt gilt es anzusetzen. Was ist wichtig für ein deutsches Selbstvers­tändnis, ohne deutschtüm­elnd zu sein? Was zeichnet uns aus und hat das Zeug, Zuwanderer wie Alteingese­ssene für ein gutes Miteinande­r zu gewinnen? Auf diese Art über Leitkultur nachzudenk­en, öffnet neue Perspektiv­en. Dabei muss es nicht um Banalitäte­n wie das Händeschüt­teln gehen, aber womöglich um Stereotype. Pünktlichk­eit etwa. In Deutschlan­d sind Terminabsp­rachen meist verlässlic­h. Wer mal in anderen Kulturkrei­sen gelebt hat, weiß, wie nützlich das ist. Respektvol­ler Umgang mit der Zeit des anderen – auch so etwas könnte Teil der Leitkultur sein. Oder das deutsche Männerbild, das sich vom Machismo früherer Zeiten emanzipier­t hat. Dass Männer in Deutschlan­d Verantwort­ung in Kindererzi­ehung und Haushalt übernehmen, taugt als positives Identitäts­angebot. Genau wie die Fähigkeit, weiter über Geschlecht­ergerechti­gkeit zu diskutiere­n.

Die Debatte über die Inhalte einer Leitkultur, die nicht bevormunde­n, sondern selbstbewu­sst Beispiel geben will, muss erst noch beginnen.

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