Das Leben in schrulligster Gestalt
Die Jury kürt 2018 keinen Autor, dabei gäbe es ideale Kandidaten – etwa T. C. Boyle.
DÜSSELDORF „Literatur ist Unterhaltung wie Rock ‘n‘ Roll oder ein Kinofilm“, hat Tom Coraghessan Boyle in einem Interview mit dem britischen Journalisten Peter Wild gesagt. „Wenn sie Dich auf dieser Ebene nicht packt, ist alles andere bedeutungslos – die Schönheit der Sprache, die Beschreibung der Charaktere, die Erzählstruktur.“Als Leser, der gelegentlich nicht gepackt wird, möchte man den amerikanischen Bestseller-Autor küssen für solche Sätze. Aus Dankbarkeit.
Vor allem, weil es Boyle ernst ist: 16 Romane hat er veröffentlicht, mehr als 60 Kurzgeschichten; und egal, ob er über Geschlechterrollen in einer Hippie-Kommune schreibt oder über das Millionärs-Sanatorium des Flocken-Moguls John Kellogg, immer schafft er es, seine Leser zu fesseln. Oft schon mit dem ersten Satz: „Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat ausbrachten, stellte Mungo Park seinen nackten Hintern vor al-Hadsch Ali ibn Fatoudi, dem Emir von Ludamar, zur Schau.“
Ja, so saftig wie „Wassermusik“kann ein historischer Roman beginnen! Da wüsste man gern, wie es mit der Afrika-Expedition des schottischen Entdeckers Mungo Park weitergeht (Ziemlich abenteuerlich nebenbei, überraschend, lustig, bizarr, grausam und tragisch). Alle seine Bücher wüchsen organisch, von der ersten Zeile an, sagt Boyle, er folge einfach nur. Ganz so einfach ist es wahrscheinlich in Wirklichkeit nicht, sonst könnte es ja jeder. Vielleicht hilft es dem Autor, dass er Geschichte studiert hat und englische Literatur, die er mittlerweile in seinerWahlheimat Kalifornien auch als Professor lehrt; zumindest scheint es bei der Arbeit nicht sonderlich zu stören.
Boyle schreibt sarkastisch, witzig, ohne dass seine Bücher ins banal Komische abgleiten. Häufig sucht er sich historische Stoffe und Menschen aus Fleisch und Blut, die er auf die herrlich schrulligen Gestalten seiner reichen Phantasie treffen lässt. Perfekte Unterhaltung – wie Rock ’n‘ Roll eben oder ein Kinofilm. Doch genau wie ein guter Musiker oder Regisseur beschränkt sich Boyle nicht auf gefälligen Sound oder schöne Bilder. Er greift in seinen Büchern aktuelle gesellschaftliche Probleme auf, immer wieder geht es um Umweltschutz und das Leben auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen. Er will, dass seine Leser mit- und weiterdenken.
Am meisten aber habe ihn bei all seinen Werken vermutlich das Thema der menschlichen Güte beschäftigt, glaubt er. Und vermutlich stimmt das sogar, selbst wenn er die Güte des Menschen sehr oft durch einen Blick in den Abgrund der Seele erkundet. Sein mehr als 20 Jahre alter, aber trotzdem brandaktueller Roman „América“über mexikanische Einwanderer und kalifornischeWutbürger ist in seinem beiläufigen, unausweichlichen Schrecken so traurig, dass es einem schier das Herz zerreißt – auch das kann dieser großartige Schriftsteller.
Über den amtierenden US-Präsidenten hat er noch kein Buch geschrieben. Aber er sei ja noch jung, hat er bei einer Lesung in Köln im vergangenen Jahr gesagt, und falls er in hundert Jahren mal einen Roman über Trump verfassen sollte, den er für eine Mischung aus Clown und Monster hält, dann werde der erste Satz lauten: „Ich hatte einen grauenvollen Tod.“
Für seine Romane und Kurzgeschichten wird er seit vielen Jahren mit Preisen überschüttet, nur der wichtigste war noch nicht dabei. Am 2. Dezember wird der noch junge Boyle 70 Jahre alt, ein klitzekleiner Nobelpreis wäre ein hübsches Geschenk.
Und alle, die bei der Verleihung und seiner Dankesrede dabei sein dürfen, können sich jetzt schon freuen: Der Mann ist auch auf der Bühne ein wunderbarer Entertainer.