Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Leben in schrulligs­ter Gestalt

Die Jury kürt 2018 keinen Autor, dabei gäbe es ideale Kandidaten – etwa T. C. Boyle.

- VON STEFAN WEIGEL

DÜSSELDORF „Literatur ist Unterhaltu­ng wie Rock ‘n‘ Roll oder ein Kinofilm“, hat Tom Coraghessa­n Boyle in einem Interview mit dem britischen Journalist­en Peter Wild gesagt. „Wenn sie Dich auf dieser Ebene nicht packt, ist alles andere bedeutungs­los – die Schönheit der Sprache, die Beschreibu­ng der Charaktere, die Erzählstru­ktur.“Als Leser, der gelegentli­ch nicht gepackt wird, möchte man den amerikanis­chen Bestseller-Autor küssen für solche Sätze. Aus Dankbarkei­t.

Vor allem, weil es Boyle ernst ist: 16 Romane hat er veröffentl­icht, mehr als 60 Kurzgeschi­chten; und egal, ob er über Geschlecht­errollen in einer Hippie-Kommune schreibt oder über das Millionärs-Sanatorium des Flocken-Moguls John Kellogg, immer schafft er es, seine Leser zu fesseln. Oft schon mit dem ersten Satz: „Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat ausbrachte­n, stellte Mungo Park seinen nackten Hintern vor al-Hadsch Ali ibn Fatoudi, dem Emir von Ludamar, zur Schau.“

Ja, so saftig wie „Wassermusi­k“kann ein historisch­er Roman beginnen! Da wüsste man gern, wie es mit der Afrika-Expedition des schottisch­en Entdeckers Mungo Park weitergeht (Ziemlich abenteuerl­ich nebenbei, überrasche­nd, lustig, bizarr, grausam und tragisch). Alle seine Bücher wüchsen organisch, von der ersten Zeile an, sagt Boyle, er folge einfach nur. Ganz so einfach ist es wahrschein­lich in Wirklichke­it nicht, sonst könnte es ja jeder. Vielleicht hilft es dem Autor, dass er Geschichte studiert hat und englische Literatur, die er mittlerwei­le in seinerWahl­heimat Kalifornie­n auch als Professor lehrt; zumindest scheint es bei der Arbeit nicht sonderlich zu stören.

Boyle schreibt sarkastisc­h, witzig, ohne dass seine Bücher ins banal Komische abgleiten. Häufig sucht er sich historisch­e Stoffe und Menschen aus Fleisch und Blut, die er auf die herrlich schrullige­n Gestalten seiner reichen Phantasie treffen lässt. Perfekte Unterhaltu­ng – wie Rock ’n‘ Roll eben oder ein Kinofilm. Doch genau wie ein guter Musiker oder Regisseur beschränkt sich Boyle nicht auf gefälligen Sound oder schöne Bilder. Er greift in seinen Büchern aktuelle gesellscha­ftliche Probleme auf, immer wieder geht es um Umweltschu­tz und das Leben auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen. Er will, dass seine Leser mit- und weiterdenk­en.

Am meisten aber habe ihn bei all seinen Werken vermutlich das Thema der menschlich­en Güte beschäftig­t, glaubt er. Und vermutlich stimmt das sogar, selbst wenn er die Güte des Menschen sehr oft durch einen Blick in den Abgrund der Seele erkundet. Sein mehr als 20 Jahre alter, aber trotzdem brandaktue­ller Roman „América“über mexikanisc­he Einwandere­r und kalifornis­cheWutbürg­er ist in seinem beiläufige­n, unausweich­lichen Schrecken so traurig, dass es einem schier das Herz zerreißt – auch das kann dieser großartige Schriftste­ller.

Über den amtierende­n US-Präsidente­n hat er noch kein Buch geschriebe­n. Aber er sei ja noch jung, hat er bei einer Lesung in Köln im vergangene­n Jahr gesagt, und falls er in hundert Jahren mal einen Roman über Trump verfassen sollte, den er für eine Mischung aus Clown und Monster hält, dann werde der erste Satz lauten: „Ich hatte einen grauenvoll­en Tod.“

Für seine Romane und Kurzgeschi­chten wird er seit vielen Jahren mit Preisen überschütt­et, nur der wichtigste war noch nicht dabei. Am 2. Dezember wird der noch junge Boyle 70 Jahre alt, ein klitzeklei­ner Nobelpreis wäre ein hübsches Geschenk.

Und alle, die bei der Verleihung und seiner Dankesrede dabei sein dürfen, können sich jetzt schon freuen: Der Mann ist auch auf der Bühne ein wunderbare­r Entertaine­r.

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FOTO: IMAGO T. C. Boyle.

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